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Die Scheinkrise

Von Dr. Oliver Everling | 25.Januar 2019

„Die Scheinkrise“ ist der Titel des neuen Buches von Kay Bourcarde und Karsten Herzmann im Wochen Schau Verlag. Der kluge Kerngedanke des Buches dreht sich um einen „exponentiellen Irrtum“ von Politik, Wirtschaft und Wissenschaft. Dieser Irrtum präge unser Handeln umfassend, schreiben die Autoren, „so umfassend, sei es auf der übergeordneten politischen Ebene, sei es auf der individuellen Ebene der einzelnen ökonomischen Akteure. Wollte man versuchen, dies in einer Quintessenz zusammenzufassen, ließe sich sagen: Unsere Erwartungen sind exponentiell, doch wir sind gefangen in einer linearen Welt – und weder das eine noch das andere ist uns richtig bewusst“.

Entsprechend diskutieren die Autoren in ihren einleitenden Kapiteln ausführlich die „alternativlosen“ Wachstumsziele, die sich Regierung um Regierung praktisch seit vierzig Jahren setzt und sich zugleich fast stets im Krisenmodus sieht, denn kaum eines der offiziellen Wachstumsziele wurde in den letzten Jahrzehnten erreicht. Die Verfehlung der Wachstumsziele wird mit „Krise“ gleichgesetzt. Hier setzt die Kritik der Autoren an, daher der Titel des Buches, „Die Scheinkrise – Warum es uns besser geht als je zuvor und wir dennoch das Gefühl haben zu scheitern“.

Korrekt zeigen die Autoren den Zusammenhang zwischen Wachstumszielen und staatlicher Verschuldung auf. Indem der Staat seine Sozialtransfers usw. auf Pump finanziert, addiert er nicht nur die Schuldenlast für die nächste Generation, sondern treibt auch durch den Zinseszinseffekt die Last mit Turbo nach oben.

Leider erwähnen die Autoren nicht den „Josephspfennig“, durch den eine schon im 18. Jahrhundert erfolgte, einfache Berechnung mit der Konsequenz bezeichnet wird, dass ein Staat eigentlich keine Schulden machen kann – ohne dass die Staatsverschuldung in Hyperinflation, Währungsreform, Enteignung, finanzieller Repression oder gar Revolution mündet.

Da die meisten Menschen ihre Altersvorsorge mit der Abgabe ihrer Wählerstimmen erledigt sehen und sich nicht mit eigenem Vermögensaufbau befassen wollen, spreizt sich die Gesellschaft zunehmend in solche Menschen, die durch Konsumverzicht sparen und von bescheidenen Renditen leben, und solchen, die ihren Lebensstandard dadurch hebeln, dass sie zur Miete wohnen, Autos leihen, Fernseher leasen und auf Kredit in Urlaub fahren – also kein Vermögen aufbauen.

Die politisch gewünschten Impulse von Riester-Rente usw. blieben aus, da mit sinkenden Renditen auch die mit Vorsorgeprodukten verbundenen Versprechen gebrochen wurden. Bourcarde und Herzmann zeigen auf, dass bei volkswirtschaftlichen Wachstumsraten unterhalb der Zinsberechnungen nicht auf Dauer damit gerechnet werden kann, dass die Renditeversprechen gehalten werden können.

Der Druck der Staatsverschuldung veranlasst jede Regierung zu einer Art Aktionismus, wie ihn Bourcarde und Herzmann beschreiben. Dieser besteht in einer ständigen Reformpolitik, eine Reform löst die andere ab, stets in der (vergeblichen) Hoffnung, nun – ergänzt um Subventionen, Sonderbedingungen, Zuschüsse, Steuerprivilegien, fiskalische Anreize usw. – die entscheidenden Wachstumsimpulse zu geben.

Bourcarde und Herzmann erkennen eine „zunehmende Gleichheit der Parteien“. „Die Logik des exponentiellen Irrtums führt zu einer tendenziellen Vereinheitlichung der politischen Zielsetzungen. Denn der Druck, die Wachstumsbedingungen zu verbessern und oder zumindest alles zu vermeiden, was sie noch weiter verschlechtern könnte, ist enorm und keine Partei in Regierungsverantwortung konnte sich ihm bislang entziehen.“

Dem Wähler dränge sich der Eindruck auf, „dass Parteien, gleich welcher Couleur, offensichtlich nicht über die nötigen Kompetenzen verfügen, um ein Ziel zu erreichen, das von ihnen selbst als herausragend wichtig für den Erfolg unserer Volkswirtschaft sowie der Gesellschaft als Ganzes bezeichnet wird.“ Bereits in den 1970er Jahren habe der Soziologe Jürgen Habermas postuliert, dass Legitimitätskrisen entstehen, sobald der Staat die Erwartungen seiner Bürger infolge einer Wachstumskrise nicht befriedigen könne. So komme es bei den Bürgern zu „fehlendem ökonomischen Urvertrauen“, formulieren Bourcarde und Herzmann.

Die Macht des Wachstumsparadigmas analysieren die Autoren auch aus wissenschaftstheoretischer Sicht, wie sie vom Wissenschaftsphilosophen Thomas Kuhn in seinem Buch „Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen“ geschaffen wurde. Hier wie auch an vielen anderen Stellen beweisen die Autoren den Tiefgang bzw. die Gründlichkeit ihrer Überlegungen, ohne den Leser jedoch in seiner Lektüre mit wissenschaftlichen Formalismen zu belasten.

Bourcarde und Herzmann legen quasi nebenbei eine überzeugende Analyse für den fortschreitenden Niedergang der SPD vor. „Die Verzagtheit, mit der die Politik agiert, zieht sich quer durch die Parteienlandschaft, am deutlichsten zeigt sie sich aber am Beispiel der SPD. Für sie gingen, mehr noch als für alle anderen Parteien, Fortschritt und sozialer Ausgleich traditonellerweise Hand in Hand“. Wer eine überzeugende Begründung sucht für die „merkwürdige Erstarrtheit, mit der die Partei agiert“, wird im Buch von Bourcarde und Herzmann fündig.

Der wissenschaftlichen Ausrichtung der Autoren (Politologie, Psychologie, Jura, …) dürfte es geschuldet sein, dass die finanzwirtschaftliche Analyse der „Scheinkrise“ zu kurz kommt. So sollte es doch stärker ins Auge springen, dass die Staatsverschuldung nicht nur in Deutschland, sondern in fast allen Industriestaaten irreale Größenordnungen erreicht hat.

Allein in Deutschland ist vom deutschen Steuerzahler eine Last von mehr als 2 Billionen Euro zu tragen. Hierin sind latente Verpflichtungen, wie beispielsweise die Renten für Millionen Beamte, die Verschuldung von staatsnahen Betrieben, anderen öffentlichen Körperschaften usw. nicht eingerechnet. Eine Verzinsung mit 5 % würde die Last schon nach einem Jahr um weitere 100 Milliarden Euro steigen lassen. Selbst wenn beispielsweise alle Aktionäre der Deutschen Bank enteignet würden, um Zinsen in solcher Höhe auch nur für ein einziges Jahr aufzubringen, würde der Erlös nicht ausreichen. Enteignet man zusätzlich auch noch die Aktionäre der Commerzbank usw., wäre man auch noch nicht einmal in einem einzigen Jahr glatt. Die endlose Kumulation von Staatsverschulden ist so nicht zu bremsen.

Würden die Autoren die allokativen Effekte der Nullzinspolitik, die durch die überbordende Staatsverschuldung erzwungen wird, und die Ressourcenvergeudung durch Zombie-Unternehmen diskutieren, würde ihnen die Wahl des Titels „Die Scheinkrise“ für ihr Buch wohl nicht so einfach über die Lippen gehen und sie würden für ihr Buch eher einen Titel wie „Der Draghi-Crash“ wählen, wenn dieser nicht schon vergeben wäre.

Der gutgemeinte Vorsatz, sich psychologisch an „lineares Wachstum“ zu gewöhnen und sich wieder zu erlauben, „in Visionen zu denken“, wird nicht reichen, um die politischen Probleme zu lösen: Solange schuldenfinanzierte Versprechen die Wahlen entscheiden, lässt sich das Dilemma aus Wachstums- und Renditeerwartungen nicht lösen. Bleiben die Zinssätze Gegenstand planwirtschaftlicher Manipulation, verfehlen die wichtigsten Preise und Maßstäbe jeder Volkswirtschaft, nämlich Zinsen und Renditen, jede Wirkung für eine effiziente Allokation aller volkswirtschaftlichen Ressourcen.

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