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Europa und China vor ähnlichen Herausforderungen

Von Dr. Oliver Everling | 18.Oktober 2024

Die wirtschaftliche Lage in Europa und China bleibt angespannt. Während die Europäische Zentralbank (EZB) versucht, die Inflation unter Kontrolle zu bringen, ohne die ohnehin fragile Konjunktur zu gefährden, kämpft China mit tiefgreifenden strukturellen Problemen. Diese Entwicklungen verdeutlichen die globalen Herausforderungen, denen sich Märkte und Regierungen derzeit stellen müssen.

Reinhard Pfingsten, Chief Investment Officer der apoBank, weist darauf hin, dass die Inflation in der Eurozone noch lange nicht besiegt ist. Selbst die EZB rechnet im Schlussquartal mit einer moderaten Gegenbewegung. Obwohl das Inflationsziel von zwei Prozent möglicherweise erst 2025 erreicht wird, sieht Pfingsten dennoch eine Abwärtstendenz bei den Leitzinsen in den kommenden Monaten. Dies ist vor allem darauf zurückzuführen, dass die Konjunktur weiterhin schwächelt. Sowohl in der Industrie als auch im Dienstleistungssektor zeigt sich eine anhaltende Schwäche. Pfingsten erwartet deshalb auch keine positiven Impulse durch den kommenden ifo-Geschäftsklimaindex.

Carsten Mumm, Chefvolkswirt der Privatbank DONNER & REUSCHEL, beschreibt einen ähnlichen Trend. Die EZB erwartet in den kommenden Monaten eine steigende Inflation, senkt aber gleichzeitig die Leitzinsen. Dies erscheint auf den ersten Blick widersprüchlich, doch Mumm erklärt, dass die konjunkturelle Schwäche in der Eurozone, insbesondere in Deutschland, auf das Preisniveau drückt. Statistische Effekte, die kurzfristig eine höhere Inflationsrate bis zum Jahresende begünstigen könnten, werden seiner Ansicht nach durch die gesamtwirtschaftliche Nachfrageschwäche zumindest teilweise ausgeglichen. Zusätzlich wirken sinkende Rohölnotierungen neutral bis negativ auf den Preis-Basis-Effekt, was auch durch geopolitische Spannungen, wie etwa im Zusammenhang mit dem Israel-Konflikt, nicht geändert wird. Mumm hält es daher für wahrscheinlich, dass die Leitzinsen auch im kommenden Jahr gesenkt werden, selbst wenn dies nicht bei jeder Sitzung der EZB der Fall sein wird. Sollte die Konjunktur nicht deutlich an Dynamik gewinnen oder die Energiepreise aufgrund geopolitischer Faktoren steigen, hält Mumm ein Zielniveau zwischen 2,0 und 2,5 Prozent für realistisch. Gleichzeitig erwartet er, dass die Renditen von Staatsanleihen sinken und der Euro schwach bleiben wird. Die jüngsten Wirtschaftsdaten aus China deuten seiner Ansicht nach ebenfalls darauf hin, dass das schwache Wachstum im Reich der Mitte keinen nennenswerten positiven Einfluss auf die europäische Konjunktur haben wird.

In China selbst hat die Regierung unterdessen damit begonnen, Maßnahmen gegen die anhaltende wirtschaftliche Schwäche zu ergreifen. Prof. Dr. Jan Viebig, Chief Investment Officer der ODDO BHF SE, analysiert das jüngste Maßnahmenpaket, das am 12. Oktober vom chinesischen Finanzminister angekündigt wurde. Er betont, dass es notwendig sei, die strukturellen Schwächen der chinesischen Wirtschaft zu adressieren. Dazu zählen die Immobilienkrise, die hohe Verschuldung der lokalen Regierungen sowie die schwache Konsumnachfrage. Trotz der aggressiveren Vorgehensweise von Regierung und Notenbank ist Viebig der Meinung, dass die angekündigten Maßnahmen nicht ausreichen werden. Zwar wurden finanzpolitische Schritte unternommen, wie die Bereitstellung von 400 Milliarden Renminbi für lokale Regierungen oder die Erhöhung der Schuldenobergrenze, doch diese Maßnahmen adressieren lediglich die Symptome und nicht die tiefer liegenden Probleme.

Die strukturellen Herausforderungen Chinas sind nach wie vor gravierend. Der Konsum stagniert, industrielle Überkapazitäten drücken auf die Preise und die Immobilienkrise belastet weiterhin das Wirtschaftswachstum. Die Marktteilnehmer hätten sich, so Viebig, von der Regierung konkretere Zahlen zur Stimulierung der Nachfrage gewünscht. Diese erhoffen sie sich nun von der kommenden Sitzung des Ständigen Ausschusses des Nationalen Volkskongresses Ende Oktober 2024. Zwar haben chinesische Aktien in letzter Zeit Kursgewinne verzeichnet, doch bleibt die wirtschaftliche Unsicherheit hoch.

Auch Carsten Mumm weist auf die schwerwiegenden strukturellen Probleme der chinesischen Wirtschaft hin. Die aktuell schwache Belebung der chinesischen Konjunktur spiegelt sich in einem Wachstum von 4,6 Prozent im dritten Quartal wider, was zwar auf erste fiskal- und geldpolitische Maßnahmen zurückgeführt werden kann, jedoch nicht über die grundlegenden Schwierigkeiten hinwegtäuscht. Besonders auffällig ist der anhaltende Preisverfall im Immobiliensektor, der seit mehr als zwei Jahren zu beobachten ist. Die schwachen Immobilienpreise belasten nicht nur die Konjunktur, sondern auch den Konsum, der bereits durch Unsicherheit und hohe Jugendarbeitslosigkeit geschwächt ist. Mumm sieht die Notwendigkeit für direkte Geldzuweisungen an die Bevölkerung, um den privaten Konsum stärker anzukurbeln. Zudem könnte eine Rückkehr zu marktwirtschaftlichen Prozessen das Investitionsklima verbessern. Doch bis diese Maßnahmen greifen, bleibt die chinesische Wirtschaft schwach, was sich auch auf Europa auswirkt. Die deflationären Tendenzen in China dämpfen die Inflation in Europa und eröffnen der EZB zusätzlichen Handlungsspielraum.

Trotz der unterschiedlichen Ursachen stehen Europa und China vor ähnlichen Herausforderungen: Beide Wirtschaftsregionen kämpfen mit strukturellen Schwächen, die das Wachstum hemmen und die Inflation beeinflussen. Die globalen Märkte warten daher gespannt auf konkrete Maßnahmen der Regierungen, um die konjunkturelle Schwäche zu überwinden und eine nachhaltige wirtschaftliche Erholung zu ermöglichen.

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