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Vertrauensfragen als Obsession der Moderne
Von Dr. Oliver Everling | 18.Mai 2014
Als sich bei Gründung 2004 die RATING EVIDENCE GmbH aus Frankfurt am Main den Slogan „Creating a World of Trust and Confidence“ gab, konnte wohl kaum einer ahnen, welchen „Konjunktur“ das Wort „Vertrauen“ schon ein halbes Jahrzehnt später nach Ausbruch der Finanzkrise haben würde. Das Wort „Vertrauenskrise“ folgt heute praktisch unisono, wenn es um Banken und die Finanzmärkte, aber auch um die US-amerikanischen Ratingagenturen geht.
Wie konnte der Begriff „Vertrauen“ zu so großer Popularität gelangen? Dieser und weiteren Fragen geht das 2013 im Verlag C.H. Beck erschienene Buch von Ute Frevert „Vertrauensfragen: Eine Obsession der Moderne (Beck’sche Reihe)“ (ISBN 978-3-406-65609-5) nach. Ute Frevert ist Historikerin und Direktorin am Max-Planck-Instiut für Bildungsforschung. Frevert kommt auch auf die Möglichkeit zu sprechen, den Begriff „Vertrauen“ ins Englische mit „confidence“ zu übersetzen.
Mit wissenschaftlicher Gründlichkeit, aber nicht so langweilig, sondern unterhaltsam und geradezu spannend führt Frevert in die Fragen, Begriffe und Bedeutungen sowie die lexikalischen Spuren des Wandels ein. So erfährt der Leser, wie sich unsere Vorfahren um das Vertrauen zu Gott sorgten („Gott als sichere Bank des Verrauens“) und langsam z.B. die romantische Liebe die Vertrauensfrage aufwarf, die Sehnsucht nach Vertrauen die Dichtung beflügelte. RIchard Wagners Suche nach grenzenlosem Vertrauen kommt ebenso zu Sprache wie Offenheit und Geheimnis in der Eheberatung.
Frevert arbeitet sich durch eine breite Palette von Begriffsdeutungen und kommt auf verwandte Begriffe zu sprechen, indem sie die besonderen Vertrauensverhältnisse zu Freunden, Kameraden oder Lehrern beleuchtet. Intensiv befasst sie sich auch mit dem „Vertrauensstaat“, der Theorie und Praxis politischen Vertrauens in der Neuzeit, von absolutistischen Treue-Verhältnissen, über Volksliebe, postfaschistischen Ent- und Verpflichtungen in der DDR bis zu bundesrepublikanischen Vertrauensfragen.
Aussagekräfte Abbildungen von Gemälden, frühen Postkarten, Radierungen, Karikaturen, Deckblättern, Werbeschriften, Fotos und Wahlplakaten lockern das Buch nicht nur auf, sondern vermitteln auch ein intuitives Verständnis des Wandels dessen, was unter Vertrauen verstanden wurde und wird.
Frevert kommt „natürlich“ auch auf das Bankwesen zu sprechen, wie zunächst – inspiriert durch liberales Gedankengut – Schulze-Delitzsch und Raiffeisen das Genossenschaftswesen schufen, das ohne Vertrauen nicht denkbar gewesen wären. Namentlich kommt Frevert auch auf die Deutsche Bank zu sprechen, die explizit schon lange vor den jüngsten Krisen um Vertrauen warb.
Indem Frevert der Geschichte der Auskunfteien und Ratingagenturen nachgeht, entdeckt sie deren rasantes Wachstum und höheren Stellenwert in der heutigen Wirtschaft, die ohne Organisationen wie der SCHUFA oder Moody’s nicht mehr denkbar wäre. Frevert meint im Bedürfnis nach Bonitätsauskünften ein Phänomen mangelnden Vertrauens zu sehen. „Obwohl die SCHUFA vom Misstrauen ihrer Vertragspartner lebt, nimmt das V-Wort in ihrer Selbstdarstellung eine Schlüsselposition ein: ‚Die SCHUFA schafft Vertrauen‘, indem ihre Bonitätsauskunft ‚die wirtschaftliche Vertrauenswürdigkeit unter Beweis‘ stelle und das ‚Vertrauen zwischen Unternehmen und Konsumenten‘ festige“, schreibt Frevert.
Die Historikerin bemerkt, wie auch bei jedem sonstigen Produktverkauf, also nicht nur bei Finanzdienstleistungen, Vertrauen durch Ratings, Zertifikate und Kundenbeurteilungen beeinflusst oder zum Ausdruck gebracht wird.
Insgesamt bietet das Buch von Frevert eine lohnende Lektüre, reich an Fakten und Beobachtungen, wie mit Vertrauensfragen umgegangen wird. Allerdings wagt Frevert offenbar nicht, dem Leser die Frage nach den Ursachen dieserr neuen „Obsession der Moderne“, wie der Untertitel des Buches lautet, heranzuführen: Vertrauensfragen korrelieren mit dem Wachstum der Wirtschaft, insbesondere mit der Arbeitsteiligkeit.
In globalen Finanzmärkten können sich die Marktakteure nicht mehr sämtlich gegenseitig bekannt sein, so dass sie auf internationale Ratingagenturen angewiesen sind. Selbst mittelständische Unternehmen aus Deutschland sind heute zu komplex, um jedem Anleger die Risikoeinschätzung einer Mittelstandsanleihe an einem Nachmittag zu ermöglichen. Auch dazu bedarf es Ratingagenturen.
Auch die von Frevert beobachteten Produktratings sind u.a. durch wachsende Arbeitsteilung begründet: Wurde früher das Obst selbst gepflückt und zu Marmelade eingekocht, wird heute die fertige Konfitüre gekauft, so dass sich eben die Vertrauensfrage nach der Qualität der Zutaten und der Verlässlichkeit der Zubereitung stellt.
Während früher die Eier beim – mehr oder weniger vetrauten – Bauern geholt wurden, gelangen die von Frevert zitierten Eier heute über den Discounter an die Verbraucher, so dass sich auch hier die Vertrauensfragen aufgrund der veränderten Wirtschaftsprozesse stellt. In jedem Fall darf der Käufer des Buchs von Ute Frevert darauf vertrauen, mit diesem Titel eine Fülle von Gedanken zu Vertrauensfragen zu erwerben.
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