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Kein Europa ohne Hellas
Von Dr. Oliver Everling | 9.Juli 2015
„Schulden hin und her. Der Geist verbietet einen Grexit“, schreibt Christoph Quarch in seinem jüngsten Essay und stärkt damit der Griechischen Regierung ihre Verhandlungsposition. Quintessenz seines Essays ist Alternativlosigkeit. „Alternativlos“, Griechenland muss im Euro bleiben – ganz nach der auch von der deutschen Bundeskanzlerin oft benutzten Vokabel. Wer keine Alternativen hat, kann nicht verhandeln, sondern muss die einseitig gesetzten Bedingungen akzeptieren.
Christoph Quarch (*1964) ist freischaffender Philosoph. Als Buchautor, Publizist und gefragter Redner berät und inspiriert er Unternehmen im deutschsprachigen Raum. Er ist Herausgeber und Gründer des Magazins „Wir Menschen im Wandel“. Seine jüngsten Veröffentlichungen: Wir Kinder der 80er (2013), Der kleine Alltagsphilosoph (2014), Das große JA (November 2014).
„Europa kam übers Meer. Sie reiste auf dem Rücken eines Stiers,“ schreibt Quarch, „in den sich Zeus verwandelt hatte: Der mächtigste und größte der griechischen Götter hatte sich in das Mädchen verliebt und sie nach Kreta getragen. Sie war die Tochter des Königs Phönix – der zwar nicht der namensgleiche Vogel ist, der sich aus der Asche der Vernichtung erhebt, was aber gut passen würde. Denn der kontinentale politische Raum, der heut Europas Namen trägt, ist – wie wir alle wissen – tatsächlich aus der Katastrophe geboren. Dass auch er dabei auf dem Rücken des Griechentums ritt, wird derzeit aber vergessen; zum Unheil der Vergesslichen.“
„Was wäre Europa ohne den großen Aufbruch jenes Volkes,“ argumentiert Quarch, „das an seinen Göttern maß nahm, um wahre Menschlichkeit zu kultivieren – das die Demokratie erfand, das an die Freiheit des Menschen glaubte, das die Philosophie erschuf und sich nicht dem Diktat der Monarchien und Monotheismen fügte. Was wäre Europa ohne die Tragödie und die Lyrik, die Mathematik und die Wissenschaft, das Politische und den Glauben an Gerechtigkeit und Harmonie? Die Antwort ist einfach: Dieses Europa gäbe es nicht.“
Während manche Ratingagentur schon vor Jahren prognostizierte, dass Griechenland langfristig nicht in der Lage sein werde, seinen zwingend fälligen Zahlungsverpflichtungen vollständig und rechtzeitig nachzukommen, werden nun mit dem anstehenden „Grexit“ Ängste wach: „Ein Grexit tötete Europas Geist“, warnt Quarch. „Und dieses Europa wird es nicht mehr geben, wenn es zum Grexit kommt. Denn sollten sich die Kämmerer und Krämer in Brüssel und Berlin durchsetzen, verlöre die Eurozone viel mehr als nur ein wirtschaftsschwaches Land – es verlöre (vollends) seinen Geist. Dann nämlich wäre der Triumph des Ökonomismus über das Politische perfekt. Es wäre der Sieg einer Denkweise, der Wohlstand mehr gilt als Würde und die Freiheit gegen Sicherheit eintauscht; die menschliche Lebendigkeit für monetäre Profitabilität opfert.“
In den USA dachte niemand bei den Insolvenzen Kaliforniens, Orange County oder Detroit an Philosophie oder an das Auseinanderbrechen der Vereinigten Staaten. Öffentliche Einnahmen deckten nicht mehr die öffentlichen Ausgaben, das war jedem Amerikaner offenbar klar und eigentlich ganz einfach. Daher müssen Gläubiger auf Forderungen verzichten und sich Schuldner darauf einstellen, künftig besser zu wirtschaften. In Europa ist die Frage Griechenlands dagegen zu einer Identitätsfrage hochstilisiert worden.
„Das Nein der Griechen zu Spardiktat ihrer Gläubiger ist in Wahrheit ein Ja zum Leben – eines, das sich dagegen verwehrt,“ schreibt Quarch, „Politik und Markt zu verwechseln; das sich dagegen sträubt, die monetären Interessen von abstrakten Staaten, Institutionen und Anliegen höher zu werten als die konkrete Würde konkreter Menschen.“
Geld dient Menschen der Vereinfachung des Tauschs von Waren und Dienstleistungen, als Rechenheit und Wertaufbewahrungsmittel. In der Antike funktionierte noch ein großer Teil der Wirtschaft ohne jede Verwendung von Geld, obwohl damals noch nicht einmal das Papiergeld erfunden war. Geld ist auch heute eigentlich eine Ware wie jede andere, die für Menschen bestimmte Probleme löst bzw. Aufgaben wahrnimmt. Nur das Monopol auf Schöpfung des Euros als gesetzlichem Zahlungsmittel unter der alleinigen Kontrolle der EZB schafft die Abhängigkeiten, denen sich auch Griechen ohnmächtig ausgeliefert fühlen.
Längst ist es technologisch möglich, auf jedes staatliche Geldmonopol zu verzichten und statt dessen den Wettbewerb der Tauschmittel zu eröffnen. Der Euro würde dann genauso wenig und genauso viel als Symbol Europas gesehen wie ein Milchbrötchen oder eine Autobatterie. Jedes Wirtschaftsgut erfüllt Funktionen bzw. befriedigt Bedürfnisse, ebenso das Zahlungsmittel „Euro“. Nur die Politisierung des Euros führt zur Wahrnehmung, es hier mit einer Grundsatzfrage zu tun zu haben.
So auch die Sicht von Quarch: „Weil offenbar nur Griechenland zurzeit gewillt ist, die Rückbindung an jene Werte zu bewahren, denen Europa sich verdankt, wäre der Grexit für Europa eine Katastrophe. Es wäre der Verlust der eigenen Wurzeln. Es wäre der Abstieg — vom Rücken des Zeus, des kraftvollen Gottes, der die Lebendigkeit im Namen führt. Was aber bliebe dann noch von Europa? Ein armes, sterbliches Ding auf einem tosenden Meer; zum Untergang im (Mittel)Meer verdammt, ein heimatloser Flüchtling auf dem ungewissen Wege zu sich selbst.“
Wäre Griechenland schon vor fünf Jahren zahlungsunfähig gewesen und der griechischen Regierung nicht durch die Weltbank, die Europäische Union und der Europäischen Zentralbank (EZB) geholfen worden, wären die Staatsfinanzen längst auf dem Konsolidierungswege, denn damals hätten in erster Linie diejenigen Spekulanten Abschreibungen auf ihre Forderungen hinnehmen müssen, die sich hinsichtlich der Wirtschaftskraft Griechenlands verschätzt haben. Die Interventionen der „Troika“ hatte fatale Folgen: Nun müssen fast alle Abschreibungen von Steuerzahlern getragen werden, denn die EZB kaufte den Investoren ihre letzten, vom Zahlungsausfall bedrohten Staatsanleihen ab.
Die schon seit den ersten Rettungsaktionen verfehlte Politik der Bundesregierung rächt sich heute, da nun die Symbolkraft des Euros in Vordergrund steht und nicht mehr nur seine profane Funktion im Wirtschaftsleben. Originalton Quarch: „Wir sollten die nicht schmähen, deren Geist uns trägt. Europa braucht das neue Hellas, denn nur in ihm wird derzeit noch erkennbar, was einst Europa aus der Taufe hob. Die eigenen Quellen zu vergessen und die eigenen Wurzeln zu zerschneiden, bringt den Tod. Europa aber darf nicht sterben. Der Grexit muss vermieden werden.“
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