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Systemwechsel
Von Dr. Oliver Everling | 24.Februar 2018
Ein Buch mit dem Titel „Der Systemwechsel – Utopie oder existenzielle Notwendigkeit?“, wie es von Dr. Albert T. Lieberg im Büchner-Verlag vorgelegt wird, macht Finanzanalysten aufmerksam. Beim langfristigen Rating geht es um die Beurteilung der Wahrscheinlichkeit, dass ein Emittent auch noch in vier oder fünf Jahren und darüber hinaus willens, rechtlich gebunden und wirtschaftlich in der Lage sein wird, seinen zwingend fälligen Zahlungsverpflichtungen vollständig und rechtzeitig nachzukommen. Fehlprognosen resultieren daraus, „tektonische Verschiebungen“ und Systemwechsel nicht oder nicht rechtzeitig erkannt zu haben. Wer einen eventuellen Systemwechsel – sei er politischer, wirtschaftlicher, sozialer oder sonstiger Art – verschläft, unter- oder überschätzt Risiken und Chancen.
In Kapitel A befasst sich Lieberg mit der Ausgangslage, in Kapitel B mit der von ihm so genannten „Gesamtgesellschaftlichen Moderne“, in Kapitel C mit der Transformation und Übergang in ein neues System, und schließlich wird in Kapitel D noch kurz der Systemwechsel im Überblick geboten und der Weg in die „Gesamtgesellschaftliche Moderne“ zusammenfassend skizziert. Zuletzt ruft Lieberg zur Bündelung der Kräfte auf, um einen breiten gesellschaftlichen Konsens und eine starke Reformbewegung zu schaffen.
Für Analysten dürfte es schon im ersten Kapitel unbefriedigend sein, dass sich Lieberg ausführlich „gesamtgesellschaftlichen Misständen“ widmet, nicht aber auch den vielen Errungenschaften. Er präsentiert bekannte „Fakten einer globalen Fehlentwicklung“, bietet einen Exkurs zur „Ausbeutung von Drittländern“, analysiert Migration und Flüchtlingsströme, den islamistischen Terrorismus und stellt den vielen Nothelfern im Ehrenamt ein „Armutszeungis eines perfiden Gesellschaftsentwurfs“ aus.
Die einseitige Fokussierung negativer Entwicklungen mag zwar logisch erscheinen, wenn man sich um Weltverbesserung bemüht – was schon gut ist, braucht ja nicht abgeschafft zu werden. Die Analyse ist jedoch unvollständig, denn der von Lieberg vorgeschlagene Systemwechsel hätte nicht nur Auswirkungen auf Millionen Menschen in Krisengebieten, sondern auch auf Milliarden anderer Menschen, die sich bereits wachsendem Wohlstands erfreuen.
Lieberg thematisiert nicht den ungeheuren Produktivitätsschub, den Menschen in buchstäblich allen Staaten der Welt zuletzt beispielsweise durch die Digitalisierung erlebt haben. In Südamerika, Afrika und Asien haben heute mehr Menschen Zugang zu Kommunikation, Bildung und Information als je zuvor. Für Schwarzafrikaner ist es ebenso eine Selbstverständlichkeit wie für ehemalige Reisbauern in Asien, in ihrer Tasche mehr Computertechnologie zu haben, als 1969 auf dem Mond landete. Diesem Beispiel ließen sich zahlreiche weitere Verbesserungen in den Bereichen Gesundheit – wie Reduktion der Kindersterblichkeit, in vielen Entwicklungsländern drastische Erhöhung der Langlebigkeit etc. -, Ernährung, Wohnung, Mobilität usw. hinzufügen.
Indem Lieberg Mangel, Armut und Gegensätze zu Reichtum fokussiert, kommen die Probleme der Überversorgung zu kurz: Selbst in den ärmeren Ländern der Welt, sogar in den von Wüsten gekennzeichneten Gebieten Nordafrikas und des Mittleren Ostens, leiden und sterben heute mehr Menschen an Überernährung bzw. -gewicht als an Hunger. Ferner bewirken staatliche Programme und gutgemeinte Wohnbauförderungen in vielen Ländern, allen voran China, das Entstehen ganzer Geisterstädte leerstehender Wohnungen, die vergeblich auf Bewohner warten.
Ein wichtiges Thema, das wohl eher in die Analyse der Ausgangslage gehört, wird von Lieberg erst im Kapitel zur von ihm so genannten „Gesamtgesellschaftlichen Moderne“ angesprochen, nämlich Geld. „Es bleiben kaum noch Bereiche, die dem Menschen frei verfügbar sind, ohne notwendiger- oder möglicherweise einen Geldwert dafür entrichten zu müssen“, schreibt Lieberg und glaubt, „eine global erneuerte Gesellschaft wird nicht umhinkommen, das Tabu eines prinzipiell auf monetärem Austausch von Waren und Dienstleistungen basierenden Wertesystems aufzubrechen.“ Damit werde zwangsläufig eine „Neudefinition der Grund- beziehungsweise Menschenreche“ einhergehen müssen. „Ein Recht, und ein Grundrecht eines Menschen ohnehin, muss unmittelbar gelten und zur Verfügung stehen, und darf infolgedessen nicht an einer monetär bestimmbare Verfügbarkeit durch den einzelnen Menschen gekoppelt sein.“
Im Entwurf von Lieberg bleibt unklar, was Menschen – wenn nicht durch eine diktatorische Terrorherrschaft – motivieren soll, über bloße Lippenbekenntnisse hinaus dafür zu arbeiten, neue „Grundrechte“ anderer Menschen zu befriedigen. Er missversteht die Rolle des Geldes, das letztlich nur ein Tauschmittel ist. Dollar, Euro, Yen oder Renminbi könnten durch viele andere Tauschmittel ersetzt werden und würden die Entscheidungssituationen der Menschen nur nominal verändern. Das Problem der Menschheit ist es nicht, nicht genügend Wünsche und Rechte zu Papier gebracht zu haben. In den meisten Ländern der Welt stehen schon heute Forderungen wie die von Lieberg in Gesetzen, oft sogar in der Verfassung.
Ein Finanzanalyst wird im Buch von Lieberg Nachweise vermissen, dass sich Lieberg bei seinen Ideen auch mit den Konsequenzen des fast in allen Ländern der Welt realisierten staatlichen Zwangsgeldmonopols mit gleichzeitig steigender Staatsverschuldung auseinandergesetzt hat. Der Rendite- und Wettbewerbsdruck der von Lieberg angeprangerten Konzerne resultiert aus der Konkurrenz von Kapital: Die mit Abstand wichtigsten Spieler an den Finanzmärkten sind Staaten, staatseigene Banken und Staatsunternehmen und nicht etwa private Unternehmen.
Der Missbrauch staatlicher Kontrolle über die Zentralbanken zum Zwecke schuldenfinanzierten staatlichen Konsums – sei es für Wahlversprechen oder zur Realisierung staatlicher Prestigeprojekte – führt zur Kumulation von Schulden, deren Zinslast exponentiell steigt – in der Finanzmathematik als „Josephstaler“ bekannt. Da sich alle führenden Industrienationen u.a. auch in allen ihren Gebietskörperschaften staatlich kontrollierten Fiatgeldes bedienen, überträgt sich die Fehlsteuerungswirkung des Geldsystems auf jeden einzelnen Bürger. Unklar ist daher, warum Lieberg diese Zusammenhänge nicht einmal anspricht.
Im Kapitel C listet Lieberg mittel- und langfristige Reformen auf nationaler wie auch auf internationaler Ebene auf, insbesondere: Neuausrichtung der Vereinten Nationen und deren Politikdurchsetzungskompetenz, supra-nationale Militärkompetenz und Waffenproduktions- und Handelskontrolle, „Planetarischer Rat für Energie, natürliche Ressoucen und ökologische Nachhaltigkeit“ usw.
Demnach setzt Lieberg seine Hoffnungen auf noch auszuwählende Menschen, denen erstmals auf dem Planeten Erde allumfassende Macht in noch nie gekanntem Ausmaße zukommen soll. Für die Umsetzung seiner Vorschläge soll eine Art Weltregierung sorgen, deren mit aller Waffengewalt ausgestattete Elite zum Wohle der Menschheit handelt.
Die von ihm geforderte „Vergesellschaftung sektorspezifischer Produktions- und Dienstleistungssysteme“ und die „Einführung des gesellschaftlichen Gemeingutes“, würde es jedem Menschen so schwer wie jedem Nordkoreaner machen, dieses System jemals noch zu ändern, da niemand in der Lage sein würde, dafür Ressourcen anzusammeln und einzusetzen. Dem stünde die von Lieberg angestrebte Gleichverteilung von Vermögen entgegen.
Die „Abkoppelung des gesellschaftlichen Gemeingutes vom Geldwert“, in der Art der von Lieberg vorgeschlagenen Entmonetarisierung, würde jedem Betriebsleiter die Entscheidungsgrundlagen entziehen, die sich letztlich nur aus Nachhaltigkeitszielen in Verbindung mit monetär bemessenen Produktivitäten und Austauschverhältnissen von Ressourcen ergeben können. Wenn Güter nicht getauscht und dafür Tauschmittel – also Geld – nach freier Entscheidung der handelnden Menschen eingesetzt werden dürfen, gibt es keine Preise, die die Knappheit der Güter wie auch die Präferenzen der Menschen reflektieren würden. Dann gäbe es auch keine Kalkulationsgrundlagen mehr, auch Planung wäre dann nicht mehr möglich.
Der freien Entfaltung und der heutigen, bunten Vielfalt der Menschheit mit ihren unterschiedlichsten Lebensentwürfen und Kulturen will Lieberg die „Schaffung eines universalen Lebensstandards für alle Menschen“ entgegensetzen. Was künftig Menschen noch wollen dürfen, listet Lieberg detailliert tabellarisch auf.
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