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„EZB hat Inflation komplett unterschätzt“

Von Dr. Oliver Everling | 15.März 2022

Wer die spürbar steigende Inflation nur auf den Krieg in der Ukraine zurückführt, missversteht die Preisstatistik – die alarmierenden Daten beziehen sich noch auf die Zeit, als ein Krieg in der Ukraine noch nicht absehbar war, dafür aber andere Trends, die von Experten in Bad Homburg schon frühzeitig identifiziert wurden. Die Schwäche der globalen Börsen seit Jahresbeginn bestätigt einen tektonischen Umbruch, der sich schon vor dem russischen Angriff auf die Ukraine abgezeichnet hat.

Ursache ist ein neues Anlageumfeld mit strukturell erhöhter Inflation, das bereits 2021 erkennbar war. Diese Konstellation werde nun durch die geoökonomischen Folgen des Ukraine-Krieges akut verschärft. „Blickt man auf das Gesamtbild, dann stehen die Kapitalmärkte vor einer echten Zeitenwende – hin zu drohender Ressourcenknappheit und erhöhtem Inflationsdruck. Die aktuellen Korrekturen sind deshalb kein kurzer Ausrutscher, sondern der Beginn einer tektonischen Marktbereinigung“, sagte Dr. Heinz-Werner Rapp, Vorstand und Chief Investment Officer von FERI, im Rahmen des digitalen Jahrespressegesprächs.

Das Zusammenspiel monetärer und geopolitischer Trends habe bereits seit geraumer Zeit die Voraussetzungen für ein strukturell inflationäres Marktumfeld geschaffen. Im Vordergrund stehe hier die massive Geldschöpfung großer Notenbanken, die im Zuge der Corona-Pandemie nochmals dramatisch ausgeweitet wurde.

Mit dem kriegsbedingten Preisauftrieb bei Gas, Öl, Weizen und wichtigen Industriemetallen werde Inflation nun endgültig zum Game Changer an den Märkten. Zudem wachse durch die wirtschaftliche Isolation Russlands das Risiko erneuter Unterbrechungen globaler Liefer- und Versorgungsketten. „Der Ukraine-Konflikt verschärft den Prozess fortschreitender Deglobalisierung und schafft eine radikal neue geoökonomische Wirklichkeit“, erklärt Rapp.

Investoren müssten sich jetzt nicht mehr nur auf ein verändertes Zinsumfeld, sondern auch auf die Unwägbarkeiten eines erneuten kalten Krieges einstellen: „Das Gesamtszenario verändert sich derzeit radikal. Am Horizont zeichnet sich bereits das Risiko einer Stagflation ab, also einer Situation mit schwachem Wachstum und gleichzeitig hoher Inflation. Diese Perspektive ist speziell für die Aktienmärkte extrem herausfordernd und mussim Verlauf noch verstanden und eingepreist werden“, so Rapp. „Die EZB hat die Inflation komplett unterschätzt“

Das signifikant gestiegene Inflationsrisiko hat auch Folgen für die globale Konjunktur. Die Europäische Zentralbank hat jüngst ihre Inflationsprognose zwar von 3,2 auf 5,1 Prozent erhöht. Modellrechnungen von FERI zeigen jedoch, dass dies immer noch zu wenig sein dürfte. Mit den bereits jetzt erreichten Preisen für Öl, Gas und andere Rohstoffe wird die Inflationsrate im Euroraum im Jahresdurchschnitt wahrscheinlich mehr als 6 Prozent betragen.

Dass sie mittelfristig wieder unter die 2%-Marke sinkt, wie es die EZB immer noch annimmt, hält FERI für unwahrscheinlich, denn bereits vor dem Ukrainekrieg gab es eine Reihe von inflationsverstärkenden Faktoren. Sollte es tatsächlich zu verringerten Lieferungen von Öl und Gas aus Russland nach Europa kommen, ist mit einem weiteren Preisschub zu rechnen, der die Inflation in die Nähe der 10%-Marke katapultieren könnte.

Weil hohe Inflationsraten wie eine zusätzliche Konsumbesteuerung wirken, wäre es mit einer moderaten Abwärtsrevision der Wachstumsprognosen nicht mehr getan. Vielmehr stünde der Aufschwung als solches in Frage. „Damit verschärft sich das Dilemma der EZB: Zur Inflationsbekämpfung müsste sie wahrscheinlich mehr tun, als ihre Anleihekäufe schneller zurückzufahren, wie sie es jetzt angekündigt hat. Mit Blick auf die Konjunktur könnte sich genau das aber als zusätzlicher Rezessionstreiber erweisen“, sagte Axel D. Angermann, Chef-Volkswirt der FERI Gruppe.

Während jahrelang durch eine ultra-lockere Geldpolitik Öl ins Feuer gegossen wurde, ohne dass es dafür eine zwingende wirtschafts- oder auch nur geldtheoretische Logik gab, werden nun ausgerechnet in einer eindeutigen Krisensituation die Zügel durch die Zentralbanken angezogen.

Die Ausführungen des Chef-Volkswirten lassen nicht nur das nun eingetretene Dilemma deutlich erkennen, sondern auch der Schaden, der durch den Angriff auf die Ukraine entsteht. Selbst bei baldiger Verhandlungslösung in der Ukraine und Normalisierung der Energiepreise bleibe es bei dauerhaft verschlechterte Beziehungen des Westens zu Russland mit der Folge einer Rezession in Russland, wenn auch mit Erholungspotenzial. Außerdem wären auch im günstigen Fall in den USA eine leicht erhöhte Inflation zu erwarten, wenn auch begleitet von einem soliden Aufschwung, während in der Europäischen Union eine temporär spürbar höhere Inflation und eine moderate Abschwächung des Aufschwungs zu erwarten wären.

Wie verschiedene Szenarien weiterer Eskalation des Kriegs in der Ukraine aussehen könnten, darauf ging Axel D. Angermann ebenfalls ein, kann an dieser Stelle aber der Phantasie des Lesers überlassen bleiben – die Konsequenzen für Aktien- und Rentenmärkte wären entsprechend turbulent.

Vor diesem Hintergrund drohe den Aktienmärkten eine echte Zäsur, die das Ende des zehnjährigen Bull Markets einläuten könnte. Auch für die Rentenmärkte bedeute das Aufkommen struktureller Inflation eine strategische Umkehr. Der sich abzeichnende Regimewechsel an den globalen Kapitalmärkten sei ein einschneidender Vorgang, der höchste Aufmerksamkeit und strategische Weitsicht fordere.

Konzepte wie „Buy and Hold“ bei Aktien verlören dann klar an Wirksamkeit. „Da sowohl Aktien- als auch Rentenmärkte künftig unter Druck kommen, wird aktives Multi Asset Management unverzichtbar. Professionelle Investoren sollten ihr Portfolio künftig sehr breit diversifizieren und mit Gold oder Rohstoffen gegen geopolitische Risiken und Inflation absichern“, sagte Dr. Heinz-Werner Rapp

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