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My Country and My People
Von Dr. Oliver Everling | 25.Dezember 2012
Mit der Verschiebung der wirtschaftlichen Machtverhältnisse weg von den Vereinigten Staaten von Amerika hin zu der Volksrepublik China wächst das Interesse, mehr über die künftigen Entscheider, ihren geschichtlichen und kulturellen Hintergrund zu erfahren. Eine gute Möglichkeit, sich mit der kulturellen Ausgangssituation zu befassen, auf der sich die Volksrepublik China 1949 gründete und auf die sich heute viele Chinesen besinnen, ist das Buch von Lin Yutang (hier vorliegend in der Ausgabe von Foreign Language Teaching and Research Pess, Beijing 2009) mit dem Titel „My Country and My People“.
Lin Yutang (林語堂 Lín Yǔtáng; 1895 – 1976) wurde bei Zhangzhou, Provinz Fujian, als Sohn eines chinesischen presbyterianischen Geistlichen geboren. Von der Familie zum Geistlichen bestimmt, trat er 1910 in das Protestantische College in Xiamen ein, wechselte an die St. John’s Universität in Shanghai, kehrte sich aber nach zwei Jahren Theologiestudium vom Christentum ab. Studien in den Vereinigten Staaten (Harvard-Universität) und ab 1921 in Deutschland, wo er 1923 mit dem Thema „Altchinesische Lautlehre“ promovierte, statteten ihn mit einer zur damaligen Zeit einzigartigen Kenntnis amerikanischer, europäischer und chinesischer Verhältnisse aus. Lin Yutang kehrte aus Leipzig nach China zurück und wechselte ab 1926 an verschiedenen Universitäten in verschiedenen Aufgaben der Hochschullehre.
Im Jahr 1935 veröffentlichte Lin Yutang in den USA das oben genannte Buch „Mein Land und mein Volk“ (My Country and My People), das schon damals zu einem Bestseller und 1936 ins Deutsche, 1937 ins Französische und 1938 ins Chinesische übersetzt wurde. In zwei Teilen wird die Geschichte und das Leben des damaligen Chinas in einem noch heute leicht zugänglichen Englisch beschrieben: Das chinesische Volk, der Charakter der Chinesen, Lebensideale, Frauenleben, politisches, soziales und literarisches Leben sowie Lebenskunst.
In vielen Abschnitten ist der Text noch heute so aktuell, dass der Leser versucht ist, zurückzublättern und sich des Erscheinungsdatums zu vergewissern. Kaum erstaunlich daher, dass Chinesen das Buch noch heute den Geschäftsleuten aus dem Westen zur Lektüre empfehlen, um ein besseres Verständnis von der Denkweise der Chinesen zu gewinnen.
Durch die Ausführungen von Lin Yutang wird klar, warum Chinesen offenen Konflikten bis hin zur (scheinbaren) Feigheit ausweichen: Indem ihnen einerseits der im Westen praktizierte, bedingungslose Glaube an die Lehrsätze der modernen Wissenschaften ebenso fehlt wie der Glaube an angeblich „letzte Wahrheiten“ verkündende Bücher der Religionen Abrahams, bleibt die Suche nach Wahrheit eine unbegrenzte Aufgabe.
Chinesische Logik beruhe auf dem chinesischen Verständnis von Wahrheit, scheibt Lin Yutang. Demnach könne Wahrheit niemals bewiesen, sondern allenfalls vorgeschlagen werden. Lin Yutang zeigt auf, wie durch Induktion und Deduktion in den westlichen Wissenschaften Probleme stets zerschnitten werden, statt mit „gesundem Menschenverstand“ zu betrachten. Nach chinesischem Verständnis sei ein Vorschlag nicht schon deshalb akzeptabel, weil er logisch sei, sondern er müsse auch im Einklang mit der Natur des Menschen stehen.
Lin Yutangs Ausführungen sind auch vor dem Hintergrund amerikanischer Managementlehre interessant, in der einerseits meist empfohlen wird, Fragen nach Glauben und Religion in Geschäftskontakten zu tabuisieren, um damit dem Geschäft nicht zu schaden. Andererseits überschlagen sich westliche Medien und manche Touristen in China im Eifer der (enttäuschenden) Suche nach Beweisen für alte chinesische (z.B. Drachen-) Götter oder Religionen, die nur deshalb nicht das Leben in China prägen, weil sie durch ein diktatorisches, kommunistisches Regime unterdrückt würden.
Möglicherweise ist es seinem Theologiestudium zu verdanken, dass sich Lin Yutang der Frage nach der Religion in einer westlichen Denkmustern entsprechenden Form überhaupt nähern kann: Denn Ausgangspunkt ist in China, dass durch Konfuzius (latinisiert aus 孔夫子 Kǒng Fūzǐ) bereits ein halbes Jahrtausend bevor im Mittleren Osten die Religion Abrahams mit dem Christentum eine neue Blüte trieb, bereits Bildung als Weg zu Harmonie und Mitte, Gleichmut und Gleichgewicht aufgezeigt wude, statt sich auf die Verehrung von Gottheiten wie durch die Ägypter, Griechen, Römer und schließlich durch Christentum und Islam zu verlassen.
Lin Yutang erzählt im Abschnitt „Imagination“ unter dem Stichwort „naïveté“ die Anekdote, wie ein konfuzianischer Lehrer wider besseren Wissens zu bedrohlichen Krokodilen gesprochen und mit der Abwendung der Gefahr Erfolg gehabt habe. Es wäre nach Darstellung von Lin Yutang sinnlos gewesen, diesen Konfuzianisten aus der Tang Dynastie (ca. 7. bis 9. Jahrhundert) danach zu fragen, ob er selbst an die Worte seiner gebetsähnlichen Rede glaubte, denn seine sichere Antwort wäre gewesen: „Wie kann ich wissen, dass es wahr ist, wie kann ich wissen, dass es nicht wahr ist?“ In Europa wurden ähnlich agnostische Denkweisen erst ein Jahrtausend später im 19. Jahrhundert ebenso deutlich formuliert (Thomas Henry Huxley, 1825 – 1895).
Warum sollte ein Mensch mehr als eine halbe Million Jahre leben? Lin Yutang leitet mit dieser Frage im Kapitel „Religion“ zum Verständnis darüber an, warum es für Chinesen belanglos ist, ob nach christlichem Glauben ein Herr Jesus das „ewige Leben“ verspricht. Lin Yutang stellt dem von Sehnsucht erfüllten, mystischen „Romantiker Jesus“, wie er ihn nennt, den positivistischen „Realisten Konfuzius“ gegenüber.
Wer Lin Yutangs Buch liest, dem wird klar, warum oft in Glaubensfragen mit Chinesen aneinander vorbei geredet wird. Konfuzius hat keine Religion begründet, sondern eine auf Weisheit gegründete, lebensbejahende menschliche Ordnung, die sich über Jahrtausende hinweg bewährt hat. Gottesvorstellungen nach dem Schnittmuster Abrahams, soweit sie vergleichbar existierten, wurden in China einerseits bereits vor Jahrtausenden überwunden. Andererseits überdauert in China eine Vielzahl religionsähnlicher Lehren, die von den meisten Chinesen aber achselzuckend zur Kenntnis genommen werden.
Chinesische Ethik sei auf den Menschen, nicht auf irgendeinen Gott zentriert. Christliche Religion verbinde jede Moralvorstellung mit Gott, während Chinesen stets den Menschen in den Mittelpunkt stellen. Für Europäer sei Ethik ohne religiöse Anbindung kaum vorstellbar. Lin Yutang macht den Apostel Paulus dafür verantwortlich, mit der jüdischen Idee der Sünde und Erlösung das Christentum überschattet zu haben. Hier wie auch an verschiedenen anderen Stellen macht Lin Yutang die unüberwindlichen Gegensätze chinesischer und christlicher Ethike deutlich.
Für das heutige China lassen Lin Yutangs Darstellungen die Prognose zu, dass sich das Weihnachtsfest in China weiterhin ungehindert verbreiten wird. „Merry Christmas“ ist im Dezember in vielen chinesischen Shopping Centers das Verkaufsmotto, mit dem der Konsum weiter angekurbelt wird. Auf den religiösen Hintergrund dekorativer Weihnachtskrippen, Engelsfiguren, Sterne oder der Weihnachtsmänner von Coca Cola kommt es kaum einem Chinesen an. Schon heute zwingt die große Anzahl der Christmas Parties, in denen Chinesen ausgelassen feiern und chinesische Weihnachtslieder Karaoke singen, zu Überstunden und Sonderfahrplänen im öffentlichen Nahverkehr der chinesischen Großstädte.
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