Verantwortung der deutschen Außen- und Energiepolitik
Von Dr. Oliver Everling | 14.April 2022
Für Analysten standen seit 2013, als die FDP nicht nur aus der Bundesregierung, sondern sogar aus dem Bundestag ausschied, die Fehler in der Wirtschafts- und Finanzpolitik der Bundesregierung, aber auch die Fehler der Geldpolitik auf europäischer Ebene mit ihren Konsequenzen für die Geld-, Kredit- und Kapitalmärkte im Vordergrund. Dabei war aber ebenso klar, dass sich Deutschland auch eine falsche Außen- und Sicherheitspolitik leistete. Schon scheint vergessen zu sein, welche Personen das Außenministerium besetzten.
Nun holt die dunkle Vergangenheit des deutschen Auswärtigen Amtes nach Ausscheiden von Guido Westerwelle im Jahr 2013 den Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier (SPD) ein, denn dieser löste die Politik der Liberalen im Außenministerium ab. Der Begriff des Normandie-Formats, auch Normandie-Quartett, soll offenbar die Namen der Verantwortlichen verschleiern, denn dieser Begriff bezieht sich seit Juni 2014 auf eine semi-offizielle quadrilaterale Kontaktgruppe, vornehmlich auf Regierungs- und Außenministerebene, zwischen Russland, Deutschland, Frankreich und der Ukraine zu Fragen des Ukraine-Konflikts.
Ganz offensichtlich führte diese Politik nicht zum Erfolg. Daher kann es nicht passen, wenn der deutsche Bundespräsident, seinerzeit mitverantwortlich für die im Ergebnis gescheiterten Verhandlungen, sich vor den Ruinen in der Ukraine als Helfer oder für sein Mitgefühl feiern lassen will, statt Verantwortung zu übernehmen.
Zur unabhängigen Beurteilung der Situation ist das Research der DZ BANK hilfreich, die auch die Fehler in der Energiepolitik beleuchtet: „Deutschland ist in weit höherem Maße als die meisten anderen EU-Länder abhängig von den Energielieferungen aus Russland“, stellen die Experten des Spitzeninstituts der deutschen Genossenschaftsbanken fest. „Mehr als die Hälfte des in Deutschland verbrauchten Erdgases kam im letzten Jahr über Pipelines aus Russland. Alternativen wie Flüssiggas wurden nicht ernsthaft in Erwägung gezogen, die entsprechenden Terminals zur Anlandung wurden – anders als in fast allen anderen Ländern mit den entsprechenden Möglichkeiten – in Deutschland erst gar nicht gebaut.“
Daher stellen die Analysten klar: „Dieser strategische Fehler der deutschen Energiepolitik rächt sich nun. Man hat sich beim Gas nicht nur auf einen Lieferanten konzentriert, man hat dem Erdgas auch eine zentrale Rolle in der Energiewende zugedacht.“ Während der Ausstieg aus der Kernenergie für das Ende dieses Jahres vorgesehen wurde und auch die Kohleverstromung so schnell wie möglich beendet werden soll, habe man sich dem Erdgas als „Übergangstechnologie“ auf dem Weg zu den erneuerbaren Energieträgern verschrieben.
Die politischen Fehler zeigen nun vielfältige Wirkung: „Auch in der Gebäudebeheizung spielt das Erdgas eine zentrale Rolle“, schreibt das DZ BANK RESEARCH, „Rund die Hälfte aller Wohngebäude in Deutschland werden mit Gas beheizt, hinzu kommt noch etwa ein Viertel mit Ölheizungen. Eigentümer und Mieter dieser Immobilien leiden nun ganz besonders unter dem Anstieg der Energiepreise. Sollte es in den kommenden Wochen und Monaten noch zu einem totalen Embargo gegen Energielieferungen aus Russland kommen, ist hier zumindest mit weiteren Kostensteigerungen zu rechnen.“
Die Fehler des amtierenden Bundespräsidenten, der sich schon seit seinem Amtsantritt im Auswärtigen Amt und dann natürlich als Bundespräsident immer mehr auf das Repräsentieren konzentrierte, statt nachhaltige Lösungen herbeizuführen, werden nun von den vielen Haushalten zu bezahlen sein.
Themen: Länderrating | Kommentare deaktiviert für Verantwortung der deutschen Außen- und Energiepolitik
Abhängigkeit von Russland bleibt
Von Dr. Oliver Everling | 13.April 2022
Als Pioniere ihrer Branche haben die Fondsmanager bei Triodos Investment Management eine klare, nachhaltige Strategie entwickelt. Im Thema „Nachhaltigkeit“ Tempo zu machen, gehört praktisch zum Gencode dieses Instituts. Die aktuelle Situation setzt aber Grenzen, das Tempo der wirtschaftlichen Transformation weiter zu erhöhen.
Hans Stegeman, Chefanlagestratege bei Triodos Investment Management (IM), muss sich mit den Folgen des Ukraine-Krieges für die makroökonomische Politik und den Handel im Hinblick auf die Rohstoffabhängigkeit befassen. Derzeit werden in der Weltwirtschaft jedes Jahr über 100 Milliarden Tonnen Ressourcen verbraucht, aber nur 8,6 % davon werden recycelt und wiederverwendet.
„Unsere Materialwahl wirkt sich auch direkt auf eine Vielzahl von ökologischen, sozialen und wirtschaftlichen Risiken aus,“ schreibt Hans Stegeman, „die mit der Herstellung von Waren verbunden sind – von Arbeitsbedingungen und Handelsströmen bis hin zu Umweltverschmutzung, Klimawandel und Landnutzung. Und obwohl es eine ehrgeizige Agenda gibt, wird es schwierig sein, das Tempo zu erhöhen und weniger abhängig von Russland zu werden. Dies ist jedoch von entscheidender Bedeutung, da viele kritische Materialien auch von Russland geliefert werden.“
Russland kontrolliert bis zu 44 % der weltweiten Palladiumlieferungen, rechnet der Chefanlagestratege vor, Palladium, das ein Schlüsselelement für Schadstoffkontrollvorrichtungen in Autos und in der Luft- und Raumfahrtindustrie ist, während die Ukraine etwa 50 % des weltweiten Angebots an Neon für die Halbleiterherstellung produziert. Die Entwicklung der Brennstoffzellen- und Wasserstofftechnologie in der EU erfordert eine Vielzahl von Materialien aus Russland, wie Platin (13 %), Titan (23 %) und Vanadium (34 %).
„Der Anteil der Mineralien aus Russland, die in der europäischen 3D-Drucktechnologie verwendet werden, beläuft sich beispielsweise auf etwa 12 %; für die Entwicklung der EU-Robotertechnologie sind es etwa 9 %. Russland ist auch der weltweit drittgrößte Lieferant von Nickel, das für Batterien von Elektrofahrzeugen, aber auch“, schreibt Hans Stegeman, „für die Herstellung von rostfreiem Stahl, einem Grundstoff für zahlreiche Industriezweige, verwendet wird. Langfristige Verträge und mitunter eine fortschrittliche Produktionsbasis führender russischer Lieferanten verschärfen den Versorgungsengpass weiter.“
Unterbrechungen im Fluss dieser Rohstoffe bedrohen nicht nur Verbraucher und Industrie durch Preisexplosionen, warnt der Chefanlagestratege: „Schwerwiegende Versorgungsengpässe in den kommenden Monaten stellen auch eine strategische Bedrohung für die wirtschaftliche Sicherheit der EU dar: die Fähigkeit der EU, ihre transformativen grünen und digitalen Ambitionen zu verwirklichen. China – das viel mehr Engpässe bei der Rohstoffversorgung kontrolliert – könnte sogar jede Störung nutzen, um seine Vormachtstellung bei der Versorgung zu festigen, was die Abhängigkeit und Anfälligkeit der EU weiter verstärken würde.“
Während die Energieabhängigkeit gelöst werden könnte, sei dies bei der Rohstoffabhängigkeit weitaus schwieriger. Abgesehen von der Tatsache, dass die Zahl der alternativen Lieferanten begrenzt sei, werde die Energiewende die Nachfrage nach seltenen Metallen und Mineralien erhöhen. Recycling wäre hier eine Lösung, aber die Recyclingraten der meisten dieser Metalle und Mineralien liegen derzeit nicht über 60 %, berichtet Hans Stegeman.
„Bei Mineralien wie Lithium liegt die derzeitige Recyclingquote sogar nur bei 10 %. Andere Kreislaufstrategien – von der Reparatur bis zur Aufarbeitung und Wiederverwendung – sind hier weniger oder gar nicht anwendbar“, heißt es aus dem Hause Triodos. „Die derzeit hohen Preise können daher ein Segen sein, da sie Alternativen rentabler machen und die zusätzliche Erforschung von Ersatzstoffen für diese Ressourcen bis zu einem gewissen Grad sowohl bei der Ressourceneffizienz als auch bei der Suche nach Ersatzstoffen helfen könnte. Dennoch wird die Umstellung der europäischen Wirtschaft von einem linearen auf ein (mehr) zirkuläres System ein riesiges Projekt sein.“
Themen: Aktienrating, Rohstoffrating | Kommentare deaktiviert für Abhängigkeit von Russland bleibt
Ratingagentur nimmt die Kryptowährungen aufs Korn
Von Dr. Oliver Everling | 12.April 2022
Die neue Kreditenzyklopädie von Fitch wirft einen umfassenden Blick auf den globalen Markt für dezentrale Finanzen (DeFi). Mit dem Titel „Credit Encyclopedia Series: Decentralized Finance Primer“ veröffentlicht Fitch Ratings erstmals eine ausführliche Beschreibung und Stellungnahme zum Thema DeFi.
Obwohl es keinen Konsens über eine Definition von DeFi gibt, wird es im Allgemeinen als ein globales Ökosystem von Webanwendungen und elektronischen Geldbörsen charakterisiert, die Computerprogramme oder Smart Contracts nutzen, die auf öffentlichen Blockchains gespeichert sind, ohne dass ein zentralisierter vertrauenswürdiger Vermittler wie eine Bank oder ein anderes erforderlich ist. DeFi hebt sich daher auch vom traditioneller Austausch von Devisen und Sorten ab, also auch von Bargeld, das sich außerhalb des ausstellenden Staates, in welchem es als gesetzliches Zahlungsmittel gilt, in Umlauf befindet.
„Unser Leitfaden deckt alles ab, von den Merkmalen des DeFi-Ökosystems, den Rating-Überlegungen, den wichtigsten Risikofaktoren und regulatorischen Überlegungen in diesem Bereich bis hin zur Rolle der Rating-Agenturen“, verspricht die internationale Ratingagentur.
„Wir hoffen, dass dieser neueste Eintrag in unserer Credit Encyclopedia-Reihe als nützliches Lehrmittel und Ressource für Forscher und Finanzdienstleistungsexperten gleichermaßen dienen wird“, schreibt Fitch Ratings.
Themen: Kryptofondsrating, Kryptorating | Kommentare deaktiviert für Ratingagentur nimmt die Kryptowährungen aufs Korn
Wandelanleihen als Konsequenz des Dilemmas der Zentralbanken
Von Dr. Oliver Everling | 12.April 2022
Wie schlägt sich die angespannte geopolitische Lage auf die Kapitalmärkte nieder? Werner Krämer, Senior Economic Analyst und Geschäftsführer von Lazard Asset Management in Deutschland, sowie seine Kollegin Desiree Sauer raten zu einer langfristigen Positionierung in einem ungewissen Umfeld.
„Normalerweise erholen sich die globalen Märkte von Kriegen und Katastrophen, und so wird es wahrscheinlich auch diesmal sein“, urteilt Makroökonom Werner Krämer. Doch es gibt ein Aber: „Das Timing der Erholung lässt sich schwer voraussagen.“ Er erwartet weltweite ökonomische Folgen des Ukraine-Kriegs, die jedoch regional sehr unterschiedlich ausfallen. „Wir sehen das bereits in den Ratings: Fitch hat die Prognose für das Wachstum des globalen Bruttoinlandsprodukts im Jahr 2022 um 0,7 Prozentpunkte auf 3,5 Prozent gesenkt, für die Eurozone um 1,5 Prozentpunkte auf 3,0 Prozent und für die USA um 0,2 Prozentpunkte auf 3,5 Prozent. Darin spiegelt sich die Belastung durch höhere Energiepreise und geldpolitische Verschärfungen wider.“
Für Russland sieht Desiree Sauer, Investmentstrategin bei Lazard Asset Management, unabhängig vom Kriegsausgang eine düstere Zukunft voraus: „Russland wird durch die Sanktionen in eine weitgehende wirtschaftliche Isolation gedrängt, außerdem hat das Land das Vertrauen der Investoren verspielt.“ Zudem sei abzusehen, dass die westlichen Länder die Abhängigkeit von russischem Öl sukzessive verringern. Dies werde ein weiterer Schlag für die russische Wirtschaft sein. In der Ukraine selbst seien die Folgen der Verwüstung und Abwanderung noch nicht abzusehen.
Andere Emerging Markets-Länder seien ebenfalls betroffen. Desiree Sauer präzisiert: „Die gestiegenen Kraftstoffpreise sind insbesondere für ölimportierende Länder wie China, Indien und die Türkei problematisch. Hinzu kommen gestiegene Nahrungsmittel- und Düngerpreise, die insbesondere die ärmsten Länder – allen voran in Nordafrika – hart treffen.“ Viele Länder würden nicht über die nötigen Wasser-, Boden- und Witterungsbedingungen verfügen, um selbst alle Nahrungsmittel anzubauen. Sie seien auf Nahrungsmittelimporte angewiesen und erlitten Kollateralschäden aus dem sinkenden Angebot und den steigenden Preisen.
Auch in Europa befeuern die Energiepreiserhöhungen die Inflation, insbesondere in Deutschland und den osteuropäischen Ländern. „Hier hat man in den letzten Jahren zu wenig getan, um die Abhängigkeit von russischem Öl und Gas zu reduzieren“, lautet das Urteil der Expertin. Für die Zentralbanken bedeute das eine große Herausforderung, denn Sie müssten die hohe Inflation jetzt in den Griff bekommen. „Aber sie wandeln auf einem schmalen Grat, denn steigende Preise in Kombination mit einer straffen Geldpolitik könnten die Nachfrage und damit das Wachstum bremsen“, so Sauer. Dabei sei das Risiko einer Stagflation oder gar einer Rezession in der Eurozone ausgeprägter als in den USA. „Die Fehlertoleranz ist also gering“, betont die Expertin. Daher sei unklar, ob die Europäische Zentralbank wie die US-amerikanische Federal Reserve in diesem Jahr mit dem Zinserhöhungszyklus beginnen wird.
Für die Vermögensanlage bietet dieses Umfeld wenige Optionen. „Anleger sollten auf mögliche Rückschläge vorbereitet sein“, warnt Werner Krämer. „Steigende Inflationsraten sind eine Herausforderung für alle festverzinslichen Anlagen, insbesondere in Europa.“ Europäische Staatsanleihen böten keinerlei Schutz vor Inflation und wiesen aktuell negative Realrenditen auf. Zudem würden die Aufkäufe der Zentralbanken auslaufen, worunter diese Assetklasse zusätzlich leide.
„Auch in den riskanteren Anleihensegmenten werden die kommenden Jahre nicht einfach“, prognostiziert Krämer. Das habe Konsequenzen: „Da Anleihen so unattraktiv sind, wenden sich Anleger tendenziell eher Aktien zu. Das ist verständlich, aber aufgrund des hohen Rückschlagrisikos nicht ungefährlich. Daher sollte der Fokus bei der Aktienauswahl auf Qualität und einer strengen Kontrolle der Risikoexposition liegen“, sagt Krämer.
Einen Kompromiss bieten seiner Meinung nach Wandelanleihen: „Sie partizipieren bei einer Aktienrallye, verhalten sich in Bärenmärkten aber eher wie Unternehmensanleihen. Damit weisen sie im Vergleich zu Aktien ein attraktives Auffangnetz auf.“ Weitere Alternativen sind aus Sicht des Experten marktneutrale Lösungen wie zum Beispiel Convertible Arbitrage, bei der gleichzeitig Wandelanleihen gekauft und Aktien leerverkauft werden. Solche Ansätze hätten sich schon in der Finanzkrise bewährt. Der Ökonom bestätigt: „Convertible Arbitrage und andere marktneutrale Konzepte können sich in einem volatilen Umfeld sehr gut behaupten.“
Für die Anlagespezialisten steht fest: Langfristigkeit und Diversifikation sind die beiden Schlüssel zum Erfolg. „Anleger sollten auf die strategische Asset Allocation achten“, empfiehlt Werner Krämer. „Ein wohldiversifiziertes Portfolio beinhaltet immer unterschiedliche Assetklassen und mehrere Regionen. Auf eine solche Streuung zu verzichten, bedeutet gerade in unsicheren Zeiten ein unnötiges Risiko.“
Themen: Aktienrating, Anleiherating, Wandelanleiherating | Kommentare deaktiviert für Wandelanleihen als Konsequenz des Dilemmas der Zentralbanken
Klimarisiken für Banken in Norwegen
Von Dr. Oliver Everling | 12.April 2022
Norwegische und schwedische Banken haben im Verhältnis zur Gesamtkreditvergabe unter europäischen Konkurrenten das höchste Engagement in Immobilien, berichtet die norwegische Ratingagentur Nordic Credit Rating (NCR). Dabei hebt die Ratingagentur die starke Verbriefung von Kreditforderungen im Allgemeinen als vorteilhaft für die Bonitätsbewertung von Bankportfolios hervor.
Das Immobilienengagement der Banken führt jedoch zu Klimarisiken, warnen die Analysten von NCR, sowohl in Bezug auf das physische als auch auf das Übergangsrisiko.
Der heute von NCR veröffentlichte Artikel befasst sich mit den Übergangs- und physischen Risiken, denen der norwegische und der schwedische Bankensektor aufgrund ihres Immobilienengagements ausgesetzt sind. Es untersucht die Maßnahmen der Aufsichtsbehörden und der Banken selbst, um die Transparenz über diese Risiken zu erhöhen und wie sie gemindert werden können.
„Wir erwarten, dass Banken sich der Auswirkungen des Klimarisikos auf ihre Kreditportfolios bewusster werden“, sagte NCR-Kreditanalystin Ylva Forsberg. „Dazu gehört, diese Risiken systematischer und konsequenter als bisher in die Kreditprozesse zu integrieren.“
Themen: Bankenrating, Nachhaltigkeitsrating | Kommentare deaktiviert für Klimarisiken für Banken in Norwegen
AAA für Deutschland – im Rating von KBRA
Von Dr. Oliver Everling | 8.April 2022
Am 8. Dezember 2021 wurde Christian Lindner im Rahmen der ersten Ampel-Koalition auf Bundesebene zum Bundesminister der Finanzen ernannt. Daher lohnt sich der der Blick auf die Urteile internationaler, unabhängiger Ratingagenturen, die über die Kreditwürdigkeit der Bundesrepublik Deutschland zu befinden haben. Für die Ratingagenturen steht nicht die Vergangenheit, sondern die Zukunftsperspektive im Vordergrund.
Wie wird sich unter einem Bundesfinanzminister Christian Lindner die wirtschaftliche Fähigkeit, rechtliche Bindung und Willigkeit Deutschlands entwickeln, stets allen zwingend fälligen Zahlungsverpflichtungen vollständig und rechtzeitig zu erfüllen?
Kroll Bond Rating Agency (KBRA) bestätigt die langfristigen Emittentenratings der Bundesrepublik Deutschland mit einem stabilen Ausblick für das Bestrating AAA. Die Bestätigung der Ratings durch KBRA spiegelt Deutschlands große, diversifizierte und weltweit bedeutende Wirtschaft, ein hohes Maß an wirtschaftlicher Widerstandsfähigkeit, einen starken Governance- und institutionellen Rahmen, ein umsichtiges politisches Umfeld und eine gesunde Position der öffentlichen Finanzen wider.
Deutschlands beträchtlicher fiskalischer Spielraum und sein hohes Maß an finanzieller Flexibilität ermöglichen es der Regierung nach Ansicht der US-amerikanischen Ratingagentur, auf unerwünschte wirtschaftliche Schocks zu reagieren. KBRA hebt in der Begründung des Ratings Deutschlands große, fortschrittliche, einkommensstarke und weltweit bedeutende Wirtschaft hervor. Die wirtschaftliche Widerstandsfähigkeit Deutschlands werde durch seine stark diversifizierte Wirtschaft, seinen Status als weltweit führender Exporteur und seine Position als größte europäische Volkswirtschaft untermauert.
Deutschlands ausgewogenes Wachstumsmodell generiere stabiles Wachstum und Beschäftigung und zeichne sich im Vergleich zu vielen Vergleichsländern durch eine moderate Abhängigkeit von der Fremdfinanzierung aus. Deutschlands robustes institutionelles Profil wird durch ein pragmatisches und konsensbasiertes politisches Umfeld, starke Governance-Kennzahlen, langjährige politische Stabilität, seine zentrale Rolle in der Europäischen Union (EU) und eine bedeutende globale geopolitische Bedeutung gestützt.
Die starke Position der öffentlichen Finanzen Deutschlands wird durch einen robusten haushaltspolitischen Rahmen gestützt, der eine Schuldenbremsregel und die Verpflichtung zu ausgeglichenen Haushalten umfasst. Obwohl die nationalen Haushaltsregeln im Zuge der COVID-19-Krise vorübergehend ausgesetzt wurden, hat ein hohes Maß an fiskalischer Flexibilität es Deutschland ermöglicht, eine umfassende politische Reaktion zu ergreifen, um die Wirtschaft durch die Krise zu stützen.
Der Status des Bundes als europäisches Referenzinstrument für festverzinsliche Wertpapiere bietet Deutschland ein hohes Maß an Finanzierungsflexibilität. Deutschlands tiefe und liquide Kapitalmärkte, die Eigenschaften des Bundes als sicherer Hafen, niedrige durchschnittliche Finanzierungskosten, die durch die akkommodierende Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) unterstützt werden, und eine robuste Investorennachfrage stellen sicher, dass die Schuldenlast Deutschlands sehr erschwinglich ist.
Deutschlands großer struktureller Leistungsbilanzüberschuss und sein positiver Nettoauslandsvermögensstatus (Netto-Gläubigerposition) unterstreichen robuste Außenbilanzkennzahlen, argumentiert KBRA, die von anhaltenden Handelsbilanzüberschüssen und hohen Renditen auf seinen Bestand an Auslandsinvestitionen angetrieben werden.
Themen: Länderrating | Kommentare deaktiviert für AAA für Deutschland – im Rating von KBRA
Russische Invasion nicht der Rede wert
Von Dr. Oliver Everling | 8.April 2022
Die russische Ratingagentur Analytical Credit Rating Agency (ACRA) aus Moskau erteilt für russische Emittenten unbeirrt Bestratings. Die Kreditwürdigkeit von Sankt Petersburg basiert zwar unstrittig auf der gut entwickelten Wirtschaft der Stadt, der ausgeglichenen Haushaltsstruktur, der geringen Schuldenlast und der hohen Haushaltsliquidität. Ob dies aber ein AAA(RU) als Emittentenrating für die Stadt (Санкт-Петербург, Город) wie auch ein AAA(RU) als Rating ihrer Emissionen rechtfertigt, kann hinterfragt werden.
Sankt Petersburg ist eine Stadt von föderaler Bedeutung und Heimat von 3,7 % der russischen Bevölkerung. Das Bruttoregionalprodukt der Stadt beträgt etwa 6 % des gesamten BRP Russlands.
Ende 2021 betrug die Verschuldung der Stadt 10 % der laufenden Einnahmen, was gemäß der ACRA-Methodik ein Hinweis auf die geringe Schuldenlast im Haushalt der Stadt ist. Nach Schätzungen von ACRA wird das Verhältnis von Schulden zu laufenden Einnahmen bis Ende 2022 niedrig bleiben. Im Jahr 2022 wird nach Angaben der Ratingagentur die Schuldenquote der Stadt im Bereich von 1–3 % liegen.
Ab dem 1. Januar 2022 enthielten die Schulden nur Anleihen mit Fälligkeit zwischen 2022 und 2028. Der Kapitaldienst belaste den städtischen Haushalt nicht. Zum angegebenen Datum waren 25 % der Schuldenverpflichtungen der Stadt in den Jahren 2022 und 2023 fällig.
Die Stadt kommt ihren Ausgabenverpflichtungen pünktlich nach und legt regelmäßig vorübergehend freie Mittel bei Kreditinstituten und über Repo-Geschäfte an, die durch russische Bundesanleihen und Anleihen der Stadt besichert sind. Die Stadt erwirtschaftet zusätzliche Einnahmen, um einen Teil ihrer Schuldendienstkosten zu decken, indem sie ungenutzte Haushaltsmittel verwaltet; diese seien zum 1. März 2022 doppelt so hoch wie die durchschnittlichen monatlichen Haushaltsausgaben im Jahr 2022 gewesen.
Für den Zeitraum 2018-2022 sollte das durchschnittliche Verhältnis von Steuer- und Nichtsteuereinnahmen (tax and non-tax revenues, TNTR) zu den internen Einnahmen ohne Subventionen 96 % betragen, schreiben die Analysten von ACRA. Die Investitionsausgaben sollten im oben genannten Zeitraum durchschnittlich 20 % der Gesamtausgaben ohne Subventionen ausmachen. In den Jahren 2018–2022 sollte das Verhältnis des durchschnittlichen Leistungsbilanzsaldos zu den laufenden Einnahmen 17 % betragen, und das Verhältnis des durchschnittlichen modifizierten Haushaltsdefizits zu den laufenden Einnahmen sei mit -1 % zu beziffern.
Vor dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine stiegen im Jahr 2021 die Einnahmen des Stadthaushalts um 26 % und die Ausgaben um 12 %. Der Haushaltsüberschuss im Jahr 2021 betrug 6 % der TNTR. Das Haushaltsgesetz der Stadt sieht für 2022 ein Haushaltsdefizit von 9 % der TNTR vor, das durch neue Anleiheemissionen gedeckt werden soll. Bei ungünstigen Verhältnissen auf dem Fremdkapitalmarkt kann die Stadt in Vorjahren angesammelte Kontoguthaben zur Deckung des Defizits verwenden.
Die hochentwickelte Wirtschaft der Stadt sorgt für eine diversifizierte Steuerbasis. Das BRP pro Kopf in Sankt Petersburg liegt konstant um das 1,5-fache über dem Landesdurchschnitt. Die Steuereinnahmen sind nach Sektoren stark diversifiziert: Nach Berechnungen von ACRA überstieg die durchschnittliche Schätzung des maximalen Anteils einer einzelnen Branche an den Steuereinnahmen der Stadt im Zeitraum 2018-2021 nicht 17 %. Die Arbeitslosigkeit blieb bisher konstant niedrig und habe im betrachteten Zeitraum 3 % nicht überschritten. Der durchschnittliche Monatslohn war 2021 fast sechsmal höher als das Existenzminimum der Stadt.
Die Ratingagentur geht von der Aufrechterhaltung der TNTR der Stadt im Jahr 2022 auf dem gleichen Niveau wie im Jahr 2021 sowie einem Ausgabenwachstum von 8 % aus, wie auch von der Beibehaltung einer konservativen Schuldenpolitik und Aufrechterhaltung einer hohen Budgetliquidität.
Die Invasion in die Ukraine spielt bei dem glänzenden Bild, das die Ratingagentur von der Bonität der russischen Hafenstadt an der Ostsee zeichnet, keine Rolle und findet nicht einmal Erwähnung. Für den stabilen Ausblick geht ACRA davon aus, dass das Kreditrating innerhalb von 12 bis 18 Monaten mit hoher Wahrscheinlichkeit unverändert bleibt. Eine negative Bewertungsaktion kann veranlasst werden durch ein Anwachsen der Schuldenlast auf über 30 % der aktuellen Einnahmen der Stadt oder bei einem signifikanten Rückgang der verfügbaren Liquidität.
Die Argumentation der Ratingagentur lässt nicht auch nur andeutungsweise den Schluss zu, dass die westlichen Sanktionen gegen Russland eine politische Wirkung entfalten könnten. Das Wort „Ukraine“ kommt nicht vor. So begründet ACRA die Beibehaltung der Bestnote AAA(RU) für Sankt Petersburg. Der Ratingbericht der Agentur liest sich so, als wäre der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine nicht der Rede wert.
Themen: Kommunalrating, Länderrating | Kommentare deaktiviert für Russische Invasion nicht der Rede wert
EIU bewirbt sich mit ESG
Von Dr. Oliver Everling | 6.April 2022
Als Dr. Walter Homolka und Tung-Quan Nguyen-Khac 1996 ihren Beitrag „Ethisch-ökologisches Rating“ im „Handbuch Rating“ (Büschgen/Everling) veröffentlichten, war es noch umstritten, ob ein dieses Thema überhaupt in ein solches Standardwerk der Finanzwirtschaft gehört, zumal es sich um die erste derartige Veröffentlichung im deutschen Sprachraum handelte. Heute dagegen bewerben sich alle führenden Ratingagenturen darum, ihr Knowhow zur Beurteilung von Unternehmen nach ethischen, ökologischen und sozialen Kriterien aufzubauen und anzubieten.
So verspricht auch die „Economist Intelligence Unit“ (EIU) umfassende Bewertung: „Gewinnen Sie eine solidere Perspektive. Anhand von 90 Indikatoren in neun verschiedenen Kategorien gehen wir über die Schlagzeilen hinaus, um den Einfluss zu messen, den Regierungen, Unternehmen und die Gesellschaft auf die ESG-Nachhaltigkeit haben.“
Die ESG-Analysten der EIU sind die Forschungs- und Analyseabteilung von The Economist Group, dem Schwesterunternehmen der Zeitung „The Economist“. Zwar wurde die Einheit schon 1946 gegründet und verfügt über mehr als 70 Jahre Erfahrung darin, Unternehmen, Finanzunternehmen und Regierungen dabei zu helfen, sich in der sich ständig verändernden globalen Landschaft zurechtzufinden. Der Anspruch im Bereich Nachhaltigkeit wird heute aber wie kaum zuvor in den Vordergrund gestellt.
EIU wirbt mit globaler Abdeckung: „Messen Sie einfach den ESG-Fußabdruck Ihres gesamten Anlageportfolios oder Ihrer gesamten Lieferkette. Unser Service deckt 95 % der Weltwirtschaft mit einem Index von 150 Ländern ab und ermöglicht es Ihnen, ESG-Risiken in allen Märkten genau zu identifizieren.“
Mit vierteljährlichen Updates sollen EIU-Kunden der sich verändernden ESG-Dynamik auf der ganzen Welt immer einen Schritt voraus bleiben können. „Erfassen Sie die wichtigsten Trends, die die Nachhaltigkeitsagenda prägen, mit der umfassenden politischen und wirtschaftlichen Berichterstattung und der vierteljährlichen Berichterstattung von EIU.“
EIU erklärt Länderrisiken aus dem Umwelt-, Sozial- und Governance-Umfeld (ESG) mit Expertenanalysen und greift bei den Bewertungen auf qualitative Indikatoren und umfangreiche offizielle Daten von EIU zu. Der ESG-Gesamtindex, einschließlich ökologischer, sozialer und Governance-Aufschlüsselungen, reflektiert historische ESG-Risikobewertungen und -indikatoren allerdings erst seit dem Jahr 2015, während Wettbewerber wie die oekom research (heute ISS/Deutsche Börse) bereits seit 1993 Daten sammeln. Immerhin bringt nun auch EIU vierteljährliche Berichte zu wichtigen ESG-Trends und -Entwicklungen.
Der ESG-Fußabdruck von Anlageportfolios oder von Lieferketten, Benchmarking der ESG-Richtlinien der Länder nach Gesamtauswirkungen oder spezifischen Treibern, die Entwicklung der Treiber der Nachhaltigkeit im Laufe der Zeit und weltweit sowie Bewertungen der langfristigen Risiken und Chancen, die durch ESG-Faktoren entstehen, gehören nun zum Programm von EIU.
The Economist Intelligence Unit Ltd gehörte zu den nach der EU-Verordnung über Ratingagenturen von der Europäischen Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde (ESMA) registrierten Agenturen. ESMA gab bekannt, dass eine De-Registrierung bereits zum 1. Januar 2021 erfolgte. Seither verzeichnet ESMA weder eine Registrierung noch eine Zertifizierung der Credit Ratings dieser Ratingagentur.
Themen: Nachhaltigkeitsrating | Kommentare deaktiviert für EIU bewirbt sich mit ESG
Globales Anlageuniversum gegen Krisen und Kriege
Von Dr. Oliver Everling | 5.April 2022
Die Aktienmärkte werden nicht vom Krieg in der Ukraine getrieben, auch wenn die Volatilität deshalb hoch und Anleger besorgt sind. Beatrix Ewert, Client Portfolio Manager bei Lazard Asset Management, rät zu Qualitätsaktien mit langfristiger Perspektive.
Im ersten Quartal 2022 hat der globale Aktienindex MSCI World rund 4,1 Prozent verloren, argumentiert die Expertin – das entspricht dem Wertverlust von Januar. „Die Ankündigungen der US-amerikanischen Notenbank Federal Reserve, die Zinsen zu erhöhen, hat die Korrekturen am Aktienmarkt ausgelöst. Nicht die Ukraine-Krise“, zieht Kapitalmarktspezialistin Ewert ihre Schlüsse. Aus ihrer Sicht hat der Krieg sicherlich die Probleme verschärft, indem er die Energiepreise und die Inflation noch weiter antreibt. Aber Auslöser einer Aktienbaisse sei er bislang nicht.
„Wir sehen massive Verkäufe an den Bondmärkten, aber nicht bei Aktien“, berichtet die Client-Portfoliomanagerin von Lazard. Die Stärke auf der Aktienseite sei zunächst überraschend, aber: „Aktien können einen gewissen Inflationsschutz bieten und sind damit alternativlos.“ Doch die hohe Inflation bringe natürlich Probleme mit sich: In den USA strebt die allgemeine Teuerungsrate auf die 8-Prozent-Marke zu, in Deutschland erreicht sie im März diesen Jahres 7,3 Prozent. „Diese Werte beruhen nur zu einem geringen Teil auf Einmaleffekten. Hier liegen strukturelle Probleme zugrunde, die auch die Notenbanken unterschätzt haben. Daher sind sie jetzt in Zugzwang“, erklärt Ewert.
Konnten in den großen Krisen der letzten 20 Jahre – das Platzen der Dotcom-Blase (2000 bis 2003), die Finanzmarktkrise (2007 bis 2009), die Pandemie (seit 2020) – die Notenbanken stark gegenlenken, ist ihr Spielraum jetzt eng. Angesichts der höchsten Inflation seit den 1970er Jahren bleibt die Fed bei ihrem Plan, in jeder Sitzung einen Zinsschritt von mindestens 25 Basispunkten durchzuführen. „Die gute Nachricht ist, dass diese Zinsschritte erwartet und deshalb bereits eingepreist sind. Klar ist aber: Wir sind bei den Festverzinslichen in einem Bärenmarkt und bleiben es in den nächsten Jahren auch“, erklärt Beatrix Ewert.
„In unserem Basisszenario kommt es nicht zu einer Apokalypse und die Unternehmen verdienen weiterhin gut. Dennoch ist das Timing in der aktuellen Situation schwierig. Wir halten Aktien für einen Teil der Lösung, empfehlen aber ein Risikobudget beziehungsweise einen längeren Anlagehorizont“, empfiehlt die Expertin. „Aktien bleiben alternativlos – wenn man sich die Schwankungen leisten kann.“
Bei den Anlagestilen zeigt sich aktuell ein Comeback der Value-Werte. Doch die Experten von Lazard verfolgen eine präzisere Strategie, erklärt Beatrix Ewert: „Bei einem Vergleich von Value-, Growth- und Qualitätsaktien zeigt sich, dass Qualität Value und Growth in jedem Marktumfeld schlägt.“ Solche Unternehmen sind hoch profitabel, besitzen Preismacht, sind idealerweise wenig kapitalintensiv, verfügen über eine stabile Bilanz und eine attraktive Bewertung. „Mit solchen Titeln lassen sich auch Zeiten mit hohen Kursschwankungen gut aushalten“, sagt Beatrix Ewert.
Bei der regionalen Titelauswahl empfiehlt die Expertin von Lazard ein globales Anlageuniversum – gerade in Zeiten von Krisen und Kriegen. Es bietet eine breitere Aufstellung, die geopolitische Verwerfungen leichter abfedern kann. „Europäische Aktien bleiben aber attraktiv: Sie sollten schon aufgrund ihrer hohen Dividendenrenditen eine wichtige Rolle im Portfolio spielen“, rät die Expertin. Außerdem sei viel Kapital aus Europa abgeflossen. Nach der Beendigung des Konflikts bestehe die Chance, dass dieses wieder zurückfließt.
Themen: Aktienrating, Fondsrating | Kommentare deaktiviert für Globales Anlageuniversum gegen Krisen und Kriege
Prognosemodelle mit vielen Unwägbarkeiten
Von Dr. Oliver Everling | 4.April 2022
Als Winston Churchill im Mai 1940 britischer Premierminister wurde, beendete er die Appeasement-Politik gegenüber Deutschland und setzte gegen Widerstand in seinem eigenen Kabinett eine kompromisslose Haltung durch, die auf einen militärischen Sieg über Nazi-Deutschland abzielte“, schreibt Axel D. Angermann analysiert als Chef-Volkswirt der FERI Gruppe. Es sei nicht überliefert, so Axel D. Angermann, dass Churchill für diese Entscheidung Ökonomen zu Rate gezogen hätte, die ihm anhand ihrer Modelle vorher ausgerechnet hätten, welche Kosten der Krieg für Großbritannien mit sich bringen und um wieviel Prozentpunkte die britische Wirtschaftsleistung einbrechen würde.
„Die Entscheidung über ein Rohstoffembargo gegen Russland ist auch heute eine genuin politische“, warnt der Chef-Volkswirt aus Bad Homburg v.d.H.: „Es geht dabei letztlich darum, welche Wirkung wir von einem solchen Embargo auf die russische Position erwarten, ob wir bereit sind, selbst dafür auch wirtschaftliche und gesellschaftliche Kosten in Kauf zu nehmen und ob wir eine solche Maßnahme zur Verteidigung unserer eigenen Freiheit für notwendig erachten. Ökonomen können möglicherweise einen Beitrag zur Entscheidungsfindung leisten, indem sie die wirtschaftlichen Folgen eines Embargos abschätzen. Die Debatte der vergangenen Tage zeigt allerdings eindrücklich vor allem die Grenzen, die einer Sozialwissenschaft wie der Ökonomie in dieser Hinsicht noch immer gesetzt sind.“
Axel D. Angermann sieht insbesondere drei Faktoren:
Erstens ist die Vorhersagekraft von Modellen wesentlich davon abhängig, dass in der Vergangenheit eine vergleichbare Situation schon einmal vorlag, so dass sich die daraus gewonnenen Erfahrungen – in modifizierter Form – auf die Gegenwart anwenden lassen. Dies ist hier nicht der Fall: Für eine massive und wahrscheinlich länger andauernde Störung der Energieversorgung, die die Stilllegung von Industrieanlagen erzwingen und in deren Folge weitreichende Störungen entlang der Wertschöpfungsketten eintreten würden, gibt es kein geeignetes historisches Vorbild. Selbst die Ölpreiskrise der 70er Jahre entfaltete ihre negative Wirkung auf die Gesamtwirtschaft nicht in erster Linie über die Entstehungsseite, sondern über die Nachfrageseite.
Zweitens sind Modelle naturgemäß ein vereinfachtes Abbild der Wirklichkeit. Das ist so lange kein Problem, wie die wesentlichen Aspekte eingefangen und von den eher unwesentlichen Aspekten abstrahiert werden kann. Im vorliegenden Fall jedoch gibt es eine Reihe wesentlicher Aspekte, die in ökonomischen Modellen nur sehr schwer bis gar nicht berücksichtigt werden können. Dazu gehören vor allem die logistischen Probleme, die ein Rohstoffembargo auslösen würde: Um die Folgewirkungen abzuschätzen, reicht eine Durchschnittsbetrachtung eben nicht aus, sondern es dürfte wesentlich sein, bei welchen Unternehmen an welchen Standorten eine Substitution von russischem Gas durch andere Rohstoffe möglich ist, mit welchen Kosten das verbunden wäre und wo das – vorerst zumindest – nicht gelingen wird.
Drittens schließlich sind dynamische Folgewirkungen schon immer ein großes Problem der Modellbildung gewesen: In einem marktwirtschaftlichen System löst ein exogener Schock Reaktionen aus, die sich oft, aber bei weitem nicht immer vernünftig abschätzen lassen, weil das hierfür erforderliche Wissen überhaupt erst in den ablaufenden Marktprozessen generiert wird. Im vorliegenden Fall betrifft das vor allem die wichtige Frage, in welchem Umfang industrielle Güter, die in Deutschland wegen des Rohstoffembargos nicht mehr hergestellt werden können, aus anderen Regionen bezogen werden können und – in langfristiger Perspektive noch wichtiger – in welchem Maße industrielle Wertschöpfung dadurch für immer verlorengeht.
Seinen Kollegen vom DIW, des Sachverständigenrates, des IMK und anderen, die sich jetzt in Studien mit den Folgewirkungen eines Embargos befasst haben, billigt Axel D. Angermann zu, sich hinsichtlich der Einschränkungen, denen ihre Modelle unterliegen, durchaus bewusst zu sein. Er ruft haber dazu auf, in der gesellschaftlichen Debatte daraus auch die richtige Konsequenz zu ziehen: Die könne nämlich nur darin bestehen, dass jedes Modell für sich genommen wesentliche Fragen unbeantwortet lässt, dass eine hinreichend genaue Abschätzung der Folgen deshalb kaum zu leisten ist und dass es sich genau deshalb um eine politische Entscheidung handeln muss.
Der Kern der Debatte wäre dann nicht, ob die deutsche Wirtschaftsleistung um 2, 3 oder 6 Prozent zurückgeht, sondern die Frage, ob hierin eine Entscheidung von grundsätzlicher Bedeutung gesehen werden soll. Churchill sei seinerzeit genau dieser Meinung gewesen und schwor deshalb seine Bürger darauf ein, ihre Insel (heute: unsere Freiheit) zu verteidigen, „wie hoch auch immer der Preis sein mag“ und versprach, „sich nie zu ergeben“.
Themen: Länderrating | Kommentare deaktiviert für Prognosemodelle mit vielen Unwägbarkeiten