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Verkannte Grundlagen der Ökonomie
Von Dr. Oliver Everling | 15.Oktober 2020
Das Geleitwort eines Prominenten kann Fluch und Segen zugleich sein. So verhält es sich auch bei diesem Buchtitel, der mit einem Geleitwort von Ernst Ulrich von Weizsäcker ins Thema einführt. Damit ist zunächst einmal klar, dass hier nicht „irgendeine“ Autorin schreibt. Während dies einerseits für den Verlag verkaufsfördernd ist, führt es andererseits dazu, dass das Buch – politisch koloriert – Vorurteile weckt. Dadurch wird das Buch insbesondere in den Zielgruppen, in denen es Denkanstöße liefern könnte, vielleicht nicht die gewünschten Effekte haben.
Für den Büchner Verlag übersetzte Ulrike Brandhorst das Buch der Amerikanerin Riane Eisler: „Die verkannten Grundlagen der Ökonomie – Wege zu einer Caring Economy“. Es ist ein typisch amerikanisches Buch, einer selbstbewussten Autorin, die nicht lediglich den Anspruch erhebt, einen bescheidenen Diskussionsbeitrag zu den bisher ungelösten Problemen von Sozialismus und Kapitalismus zu leisten, sondern die dem Leser gleich den Begriff liefert, unter dem die Zukunft der Menschheit zu gestalten ist: „Caring Economy“, herbeigeführt durch die „Care-Revolution“.
Die Autorin stellt sowohl Kapitalismus als auch Sozialismus als Versuche da, „eine Dominanz geprägte Wirtschaft hinter uns zu lassen, die uns den Großteil der überlieferten Geschichte begleitet hat – angefangen von der Top-Down-Wirtschaft der Stammesführer über die der chinesischen Kaiser und nahöstlichen Scheichs bis hin zu den europäischen Feudalherren.“
„Allerdings“, hebt Riane Eisler hervor, „schenken weder die kapitalistische noch die sozialistische Wirtschaftslehre der Zerstörung unserer natürlichen Lebensgrundlagen oder der essentiellen Bedeutung des Umweltschutzes in irgendeiner Form Beachtung. In beiden Theorien wird die Natur lediglich als Objekt betrachtet, das es zu beherrschen und auszubeuten gilt.“
An der Wurzel jeder Ökonomie, die Ungleichheit, Armut und Zerstörung produziert, sieht Riane Eisler eine Gesellschaft, die Frauen und die ihnen überantwortete Care-Arbeit abwertet. Für Kapitalismus und Sozialismus war die Sichtbarmachung dieser Frauenarbeit kein Thema, denn diese sollte umsonst in von Männern kontrollierten Haushalten geleistet werden.
Die von Riane Eisler kritisierten Theoretiker des 18. und 19. Jahrhunderts befassten sich allerdings schlicht nur mit den politisch und gesellschaftlich relevanten Beziehungen zwischen Haushalten und Unternehmen sowie dem Staat. Unter den damaligen Bedingungen konnte sich eben keiner vorstellen, dass sich eines Tages Amerikaner vom Frühstück bis zum Abendessen in – fossile Brennstoffe verbrauchende – Autos setzen würden, statt Mahlzeiten zu Hause zuzubereiten und einzunehmen. Der hohe Anteil häuslicher Wertschöpfung war selbstverständlich. Es ging den Vordenkern damals darum zu verstehen, wie Menschen mit Fremden umgehen und mit ihnen Geschäfte machen, und erkannten den Eigennutz als Triebfeder.
Eine Fülle von Produkten und Dienstleistungen ließen sich nennen, von der Kindererziehung bis zur Altenpflege, die heute auf „Märkten“ nachgefragt und nicht mehr als interne Angelegenheit von Haushalten angesehen werden, in denen einst mehrere Generationen zusammenlebten. Der Staat zwingt die Kinder in die Schule, was wohl unumstritten auch eine Errungenschaft der Menschheit ist; der Staat zwingt aber auch jeden Bürger zur Teilnahme an dem vom Staat vorgegebenen Wirtschaftssystem, indem der Staat von seinen Bürgern auch dann Rundfunkbeiträge, Steuern wie Grundsteuern und sonstige Abgaben verlangt, die unabhängig von der Frage erhoben werden, wie das zur Leistung der Abgabenlast erforderliche Geld beschafft wird. Dadurch zwingt der Staat jeden Bürger auf den Markt, sich bzw. seinen Besitz zu verkaufen und sich mit jeder erdenklichen Methode Geld zu beschaffen.
„Die aktuellen Wirtschaftskennzahlen wie z.B. das Bruttoinlandsprodukt (BIP) machen deutlich, dass auch der Schutz und die Pflege unserer natürlichen Lebensgrundlagen allgemein immer noch als irrelevant für die Wirtschaftsleistung betrachtet werden. Aus diesem Grund werden auch von Unternehmen verursachte Umweltschäden im Wirtschaftsjargon als ‚Externalitäten‘ bezeichnet, obwohl es ohne die natürlichen Lebensgrundlagen überhaupt keine Wirtschaft gäbe. Gleiches gilt für Schäden, die Menschen, darunter auch zukünftige Generationen, durch Aktivitäten entstehen, die im BIP als ‚produktive Aktivitäten‘ betrachtet werden.“
Riane Eisler verkennt hier, dass den alten Wirtschaftstheoretiker die Rolle privater Haushalte durchaus bewusst war. Nur gab es keinen Anlass, die haushaltsintern geleisteten Arbeiten wirtschaftstheoretisch zu modellieren. Die Prinzipien der Marktwirtschaft und des Kapitalismus dienen nicht dazu, Arbeit innerhalb eines privaten Haushalts zu organisieren oder gar bestimmte Konsumgewohnheiten vorzuschreiben. Die Idee der Marktwirtschaft resultiert vielmehr aus Antworten auf die Fragen danach, wo Menschen auf Märkten zusammentreffen, was sie dort tun und wie Menschen Fremden gegenüber sich zwar auch altruistisch, aber eher egoistisch verhalten. Meist sind sie nur dann zur Erbringung von Leistungen bereit, wenn sie nicht nur für den anderen, sondern auch für sich persönlich einen Vorteil sehen.
Zahlreiche politische Aktivisten von Links- bis Rechtsaußen zeugen beispielsweise davon, wie selbst spektakuläre, vordergründig altruistisch erscheinende Aktionen mit dem Streben nach sozialer Anerkennung, Status in der Peergruppe, Berühmtheit über die sozialen Medien hinaus bis hin zu verbesserten Bewerbungschancen bei staatlichen Stellen oder NGOs motiviert sein können.
Die inzwischen 83jährige Autorin glaubt ihre Ansichten mit populären Veröffentlichungen jüngerer Buchschreiber wie Thomas Piketty belegen zu können, ohne sich kritisch mit deren Kassenschlagern auseinanderzusetzen. So gibt sie ihrem Buch durch ihren Rundumschlag ein modisches Gewand aus Ökologie und Kapitalismuskritik und entwertet damit ihre beachtenswerteren Thesen, die der Leser erst später zu lesen bekommt.
Riane Eisler will zwischen Dominanz- und Partnerschaftssystemen unterscheiden. „In Dominanzsystemen gibt es in Beziehungen nur zwei Möglichkeiten: man ist übergeordnet oder untergeordnet.“ In einem Partnerschaftssystem dagegen will Riane Eisler Beziehungen gestärkt sehen, die von gegenseitigem Respekt und Fürsorge geprägt sind: „Obwohl es große Unterschiede zwischen kapitalistischen und kommunistischen Wirtschaftssystemen gibt, werden in beiden sowohl die natürlichen Ressourcen als auch die Produktionsmittel von ‚den Oberen‘ kontrolliert – was auf Mensch und Natur gleichermaßen negative Auswirkungen hat.“
Riane Eisler entdeckt in den Religionen, aber auch in den Wissenschaften die Wurzeln verfehlter Denkweisen: „Der in Dominanzsystemen verbreitete Mythos, dass Menschen grundsätzlich böse und selbstsüchtig seien und daher einer strikten hierarchischen Kontrolle unterworfen werden müssen, gehört zu den Grundpfeilern des dominanzgeprägten Denkens. Er findet sich sowohl in der religiösen Vorstellung der Erbsünde als auch in den soziobiologischer Theorien über egoistische Gene wieder.“ Riane Eisler sieht im Kapitalismus nicht das Ungeheuer, sondern in den ihm zugrundeliegenden „dominanzgeprägten Überzeugungen Strukturen und Gewohnheiten, die wir aus früheren Zeiten übernommen haben.“
„Da Marx und Engels alles, was Frauen betraf, als zweitrangig betrachteten, schenkten sie auch der stereotypisch mit Frauen assoziierten Fürsorge und Care-Arbeit wenig Aufmerksamkeit und erkannten daher auch nicht, wie stark die Wirtschaft, die sie doch menschlicher machen wollten, durch die Abwertung von Fürsorge und Care-Arbeit entmenschlicht wurde“, schreibt Riane Eisler und betont, „dass wirtschaftliche Ungleichheit kein Alleinstellungsmerkmal des unregulierten Kapitalismus ist, sondern vielmehr ein generelles Merkmal von dominanzgeprägten Wirtschaftssystemen.“ In stark dominanzgeprägten Kulturen sieht Riane Eisler die Bestechung auf sämtlichen Regierungsebenen – vom niederrangigsten lokalen Amtsträger bis zum obersten Staatsbeamten – als eine oft noch akzeptierte Praxis. Die Substitution von privatem durch öffentliches Eigentum, der Ersatz von Unternehmern durch Beamte oder von Marktpreisen durch staatliche Gebühren machen also nicht den entscheidenden Unterschied. „Ein weiteres Kennzeichen streng dominanzgeprägter Regime sind unverhohlene Enteignungen.“ Riane Eisler schreibt aus persönlicher Erfahrung des Sozialismus, in ihrem Fall des Nationalsozialismus, vor dem sie als Kind mit ihren Eltern fliehen musste.
„Das erste und grundlegendste Element“ der Alternative zu Dominanzsystemen sieht Riane Eisler in demokratischen und egalitären Strukturen sowohl in Familien als auch in der Gesellschaft insgesamt. „Das zweite Grundelement eines Partnerschaftssystems besteht darin, dass Missbrauch und Gewalt kulturell nicht akzeptiert sind, was zu mehr Vertrauen und gegenseitigen Respekt führt.“ Das dritte Grundelement, nämlich Gleichberechtigung und Partnerschaftlichkeit zwischen Frauen und Männern, soll dazu führen, „dass Eigenschaften und Verhaltensweisen wie Friedfertigkeit und Fürsorge, die in Dominanzsystemen als weibisch abgewertet werden, für Männer wie Frauen als gleichermaßen wünschenswert gelten und in der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik Wertschätzung erfahren.“
Riane Eisler widerspricht Kritikern, die häufig die Industrialisierung für zunehmende Umweltprobleme verantwortlich machen: „aber Umweltprobleme gibt es nicht nur in einer Industriewirtschaft. Die Ausbeutung unserer Mitwelt ist charakteristisch für Dominanzsysteme und reicht weit zurück – bis hin zu den prähistorischen Herden, die durch Überweidung die Böden auszehrten und so Knappheit verursachten, was wiederum die Entwicklung dominanzgeprägter Beziehungen vorantrieb.“
Indem die Autorin historischen Betrachtungen breiten Raum gibt, erhält der Leser immer wieder Gelegenheit, aus Beispielen der Menschheitsgeschichte zu lernen. Außerdem liest sich das Buch stets interessant, da Riane Eisler eine Fülle historischer Details bereithält, die selbst einen geschichtskundlich gebildeten Leser überraschen können. Hinsichtlich der Genauigkeit wird der Leser nur dadurch verunsichert, dass Riane Eisler den Verfasser der „Bibel“ der kapitalistischen Lehre, Adam Smith, mit dem Geburtsjahr 1923 angibt – ein Typo.
„Mit seiner Ablehnung gegenüber staatlicher Einmischung stellte Smith indirekt die Kontrolle der Oberklasse über die Wirtschaft in Frage. Es hätte ihn schockiert, wenn er erfahren hätte, dass seine Wirtschaftstheorie einmal zur Rechtfertigung von Raublust und Gier genutzt werden würde – Verhaltensweisen, die er streng verurteilte.“ Smith habe weder behauptet, dass der Staat keine Rolle spiele, noch setzte er sich für eine Privatisierung von staatlichen Dienstleistungen ein. Riane Eisler lässt keinen Zweifel daran, dass im Vergleich zu den früheren feudalen und merkantilen Wirtschaftssystemen, in denen Adlige und Könige den Großteil der Wirtschaftsressourcen besessen hatten, der Kapitalismus mit Sicherheit ein Fortschritt war. Die Hoffnung aber, nun auch die Schattenseiten des Kapitalismus durch Sozialismus beseitigen zu können, wurden nicht nur durch „Stalins brutales autokratisches Regime“ zerschlagen, wie Riane Eisler an Beispielen vor Augen führt.
Die Autorin wird nach dem Kollaps der Sowjetunion allerdings zu stark von den US-amerikanischen Verhältnissen geblendet. „Im Ideologiewettstreit zwischen Kapitalismus und Sozialismus wurde der Kapitalismus zum Sieger erklärt. Doch während dies zunächst als großer Segen für das Wirtschaftswachstum gepriesen wurde, stellte es sich bald heraus, dass es sich hierbei um einen Pyrrhussieg handelte – zumindest für die große Mehrheit der Weltbevölkerung. Denn während die Aktienmärkte stiegen, die Unternehmensprofite in die Höhe schnellten und die CEO-Gehälter astronomische Summen erreichten, wurden die Bedingungen für den Großteil der Bevölkerung immer schlechter.“
Hier ignoriert die Autorin, dass die Volksrepublik China nach Einführung der Marktwirtschaft mehr Menschen aus der Armut geholt hat als je ein anderer Staat in der Menschheitsgeschichte zuvor, gleich nach welchem Maßstab gerechnet, ob relativ oder absolut, hunderte Millionen. Auch in Europa, insbesondere auch in Deutschland, waren die obersten und die untersten Einkommensquantile noch nie so eng beieinander wie heute. Die Zahl börsennotierte Unternehmen ist rückläufig. Viele Flaggschiffe der europäischen Wirtschaft kämpfen nicht erst seit der Corona-Krise ums Überleben. Selbst afrikanische Flüchtlinge kommen schon mit eigenen Smartphones nach Europa und erwarten selbstverständlich Zentralheizung, Fernseher und Kühlschrank – alles Produkte, die für ihre Großeltern noch unerschwinglich waren. Von „immer schlechter“ kann also nicht die Rede sein.
Die Kritikpunkte an den Wirtschaftssystemen im Westen wie im Osten sind dennoch zahlreich und lassen sich auf vielen Seiten zusammentragen. Sieht man von einzelnen Übertreibungen einmal ab, ist die Kritik berechtigt. Während die Bestandsaufnahme in einem Buch wie dem von Riane Eisler zur „Pflicht“ gehört, liegt die „Kür“ im Aufzeigen einer Alternative. Hierzu bietet die Autorin den Begriff „Caring Economy des Partnerismus“ an, der sicherlich positive Assoziationen weckt.
Wie ernüchternd liest sich dann aber ihr Satz: „Diese Theorie befindet sich derzeit in der Entwicklungsphase und benötigt den Beitrag und die Kreativität von vielen von uns.“ Riane Eisler weiter: „Darüber hinaus benötigen wir dringend eine Wirtschaftstheorie, die der Politik vor Augen führt, dass sie nicht nur auf der Grundlage kurzfristiger Überlegungen entscheiden darf.“ Im Klartext: Problem erkannt, Lösung noch nicht gefunden.
Vielen statisch denkenden, meist linken, grünen oder auch rechten Utopisten hat Riane Eisler in ihrer Forschungsmethode die „Analyse von Beziehungsdynamiken“ voraus. Ausgerechnet in ihrem Kapitel „Wie können wir Wirtschaft neu denken?“ wird aber recht wenig neu gedacht, denn die Vorschläge reichen von Kindergeld über Elternzeit bis preisreduzierten Tickets und ähnlich beliebten Wünschen.
Viele ihrer Vorschläge sind zwar nicht in den USA, aber in anderen Staaten schon Realität, ohne dass sich daraus ein signifikant anderes Wirtschaften im Sinne einer „Caring Economy“ ergeben hätte. Wer auf die positive Wirkung einer Fülle von Subventionen, Zuschüssen und einem Dickicht aus Regulierung hofft, überschätzt Wissen und Weisheit jeder Regierung und unterschätzt die Komplexität der Beziehungen zwischen Wirtschaftssubjekten.
Auch in weiteren Kapiteln kommt Riane Eislers Hoffnung zum Ausdruck, zu Lasten des Steuerzahlers all die Anreize setzen zu können, dass „Care-Arbeit in Privathaushalten und im Non-Profit-Bereich finanziell belohnt wird“. Indem sie vom Staat finanzielle Belohnungen einfordert, wird nicht klar, worin die Abkehr vom Profitdenken bestehen soll.
Im Abschnitt „Technologische Fantasien und globale Realitäten“ gibt die Autorin ihre Hoffnung auf, dass neue Technologien Probleme wie wirtschaftliche Ungleichheit und Gewalt lösen könnten. Ihr Blick richtet sich daher im folgenden Kapitel darauf, wie mit Spendengeldern in Norduganda ein Brunnen gebohrt wurde usw., nicht aber auf die technologischen Durchbrüche, die in Afrika und Asien zur finanziellen Inklusion, sozialen Integration und zu mehr Sicherheit verhalfen. „Die Evolution hat uns Menschen neurochemisch so ausgestattet, dass wir Freude empfinden, wenn wir uns um andere kümmern. Diese Freude kennen wir alle. Wir erfahren sie, wenn wir uns um ein Kind, einen Liebespartner oder Freunde kümmern – und sogar bei der Pflege unserer Haustiere.“
Diese Freude wurde gerade durch neue Technologien zu einem wahren Feuerwerk entfacht: Während Riane Eisler ihre Bücher verkauft, stellen Millionen namenloser Autoren ihr Wissen auf Wikipedia bereit. Weitere Millionen schreiben Blogs und laden Videos hoch, mit denen sie nicht nur ihren Spaß und ihre Freude, sondern auch zahllose nützliche Tipps mit Milliarden Menschen teilen. Oder geben eine Buchbesprechung.
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